Feb. 2023

Berlinale Blogger*innen 2023  „Borrowing a Family Album“ und die Erfahrung kollektiver Erinnerung

Das Publikum 'leiht' sich Erinnerungen aus bei Tamer El Saids Ausstellung "Borrowing a Family Album"
Das Publikum 'leiht' sich Erinnerungen aus bei Tamer El Saids Ausstellung "Borrowing a Family Album" ©Ahmed Shawky

Die Sektion Expanded Forum der Berlinale wählt jedes Jahr eine Sammlung von Werken aus, in denen der Film mit anderen Kunstformen verschmilzt und die über das Medium Film hinausgehen, um sich selbst auszudrücken. Für die Berlinale 73 hat das Erweiterte Forum 11 Kunstwerke ausgewählt, darunter drei von arabischen Künstlern: „Comrade Commander, it's nice to see you“ des Libanesen Walid Raad, „On the beach, here“ von Jasmina Metwaly, die zwischen Kairo und Berlin lebt, und „Borrowing a family album“ des ägyptischen Filmemachers und bildenden Künstlers Tamer El Said; das Werk, das als das Glanzstück der diesjährigen Auswahl betrachtet werden kann.

Jedes Jahr präsentiert das Forum Expanded der Berlinale Arbeiten, die das Medium Film mit anderen Kunstformen verbinden and die Grenzen dessen, was Film als Form kreativen Selbstausdrucks vermag, ausloten.

Das Forum Expanded-Programm der 73. Berlinale beinhaltet die Werke von elf Künstlerinnen und Künstlern, darunter drei aus arabischen Ländern: „Comrade Leader, Comrade Leader, How Nice to See You“ von Walid Raad aus dem Libanon, „On This Shore, Here.“ der in Berlin und Cairo arbeitenden Künstlerin Jasmina Metwaly, und „Borrowing a Family Album“ des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said, das als Juwel der diesjährigen Auswahl gelten darf.

Ich beobachtete grob, wohin sich die Menschen im silent green Kulturquartier, dem Mittelpunkt der Vorführungen und Veranstaltungen des Forum und des Forum Expanded, bewegten. Ich nahm Notiz davon, wie lange ein Besucher durchschnittlich vor einem Werk stand, und realisierte, dass die Mehrheit sich immer irgendwann in Tamer El Saids Installation wiederfand. Die Menschen interagierten mit seiner Arbeit, wurden ein Teil von ihr und verwirklichten so die Intention des Künstlers, wie sie im Titel seiner Arbeit steht: „Borrowing a Family Album“ – ein Familienalbum auszuleihen.

Die Erinnerung anderer als Inspiration

Im Begleittext zur Installation offenbart El Said seine Quelle der Inspiration: seine Schwester, die urplötzlich verschwand, als er noch ein Kind war. Erst Jahre später erfuhr er die Wahrheit, dass sie gestorben war, doch in der Zeit zwischen ihrem Verschwinden und dieser Entdeckung erfand er gemeinsame Erinnerungen. Als er Familienaufnahmen des Künstlers Georgios Rigopoulos sah, gewann er auch diesen Erinnerungen anderer Menschen eigene Erinnerungen ab. Er fand Erinnerungen an Orten, die er nie besucht hatte.

Der Künstler schickt uns auf die Suche nach Antworten: Können die Erinnerungen anderer zum Teil unserer eigenen Erinnerung werden? Könnten wir gemeinsam ein einziges kollektives Familienalbum schaffen? Teil der Ausstellung ist ein Album, in dem die Besucher Fotos und ihre Erinnerungen hinzufügen können. Auf der oberen linken Seite befindet sich die Erinnerung, die unser Blogger Ahmed Shawky dem Kunstwerk hinzugefügt hat. Teil der Ausstellung ist ein Album, in dem die Besucher Fotos und ihre Erinnerungen hinzufügen können. Auf der oberen linken Seite befindet sich die Erinnerung, die unser Blogger Ahmed Shawky dem Kunstwerk hinzugefügt hat. | ©Ahmed Shawky

Eine interaktive Erfahrung

„Borrowing a Family Album“ besteht aus verschiedenen Elementen: Projektoren, die Familienaufnahmen abspielen, Alben mit Dias und animierten Clips und dem wichtigsten: einem interaktiven Tisch, wo der Besucher sich setzen und am Aufbau dieser Arbeit teilhaben kann, indem er ein Foto auswählt, es in das Album klebt und einen Kommentar – vielleicht eine eigene Erinnerung – dazu verfasst. So geht der Ort einer Fotoaufnahme von der Erinnerung des Künstlers auf den Besucher über oder wird besser gesagt zur Erinnerung beider, auch wenn sie unterschiedliche Gefühle dafür hegen.

Das Erlebnis dieser Kunstarbeit ist deshalb nicht komplett, ohne an diesem interaktiven Tisch gesessen und am Schaffensprozess teilgenommen oder wenigstens in den Seiten geschmökert zu haben, die andere mit ihren Bildern und Worten gefüllt haben. Als ich dort saß, ein Foto auswählte, es in das Album klebte und meine persönliche Erinnerung niederschrieb – wie ich einst die Fotos meines Großvaters aus Algerien in den Sechzigerjahren durchging – wurde mir die Widersprüchlichkeit von Erinnerung bewusst: Sie ist eine zerbrechliche Fantasie, die sich unmöglich festhalten oder auf ihre Echtheit prüfen lässt, und doch ist sie stark genug, um Menschen zusammenzuführen oder gar zu vereinen, wenn sie das wollen.

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