Wie in anderen Ländern auch leiden die Menschen in Palästina unter den psychischen und gesellschaftlichen Folgen der Coronapandemie und besonders des Lockdowns. Angst und Zweifel, Isolation und neue Formen der Stigmatisierung breiteten sich in der Gesellschaft aus. Die Behandlung der körperlichen Folgen von COVID-19-Erkrankten rückte in den Mittelpunkt und viele verloren ihren mentalen Kompass. In dieser chaotischen Zeit entstanden bemerkenswerte Initiativen, die an die Bedeutung der psychischen Gesundheit erinnerten.
Vor anderthalb Jahren bemerkte Noha Salama, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war nicht sie selbst, hatte keine Energie. Drei Monate lang weinte sie fast ununterbrochen, hatte Stimmungsschwankungen und fühlte sich ständig müde. Ihrem Leben stand sie mit Resignation und Ablehnung gegenüber. Die Erziehung ihrer Tochter, um die sie sich damals allein kümmerte, da ihr Mann arbeitsbedingt nicht zuhause wohnte, wurde zur Qual. Die Coronakrise und damit einhergehende häusliche Isolation stürzten Noha in ein noch tieferes Loch. Sie entschied sich, Hilfe zu suchen, und kontaktierte eine Frau namens Hanan über Facebook. Diese Bekanntschaft war „das Beste, was mir je passieren konnte“Hanan Waleed lebt in der Altstadt Ramallahs in Palästina und arbeitet als Psychotherapeutin in einem Ärztezentrum, wo sie ihre Patient*innen und andere Ratsuchende empfängt. Ihre Arbeit ist schwierig und erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Den ganzen Tag lang lauscht sie den Sorgen, Problemen und Gefühlen von Kindern, bietet ihnen einen sicheren Raum zum Reden und arbeitet an ihren Verhaltensweisen.
Der kleine Salam kommt in die Praxis – ein Junge, der schon Mann sein will. Er empört sich über seine Mutter, die ihn als „kadhib“, als Lügner, bezeichnet hatte, weil er sich weigerte, ihr seine fertigen Hausaufgaben zu zeigen. Bevor die Sitzung beginnt, möchte er mit Hanan gerne das Leiterspiel spielen. Während die beiden spielen, spricht der Junge erst über leichtherzige Dinge, wie seine Lieblingsfarbe Grün, fühlt sich durch Hanans ruhige und verständnisvolle Art dann aber zu großer Offenheit ermutigt. Wie in anderen Ländern auch leiden die Menschen in Palästina unter den psychischen und gesellschaftlichen Folgen der Coronapandemie und besonders des Lockdowns, der auch hier im März 2020 begann und sich lange Zeit hinzog. Angst und Zweifel, Isolation und neue Formen der Stigmatisierung breiteten sich in der Gesellschaft aus. Die Behandlung der körperlichen Folgen von COVID-19-Erkrankten rückte in den Mittelpunkt und viele verloren ihren mentalen Kompass.
In dieser chaotischen Zeit entstanden bemerkenswerte Initiativen, die an die Bedeutung der psychischen Gesundheit erinnerten. Die Vorreiterin dieser Bewegung war Hanan Waleed, gefolgt von Salah Malaysha. Damals ging Hanan der persönliche Kontakt mit den Patient*innen verloren. Tag um Tag wurde die Lage undurchsichtiger, ohne Gewissheit darüber, was der nächste Tag bringen würde.
Hanans Freiwilligenarbeit
Hanan wurde in ihrem Vorhaben, auf freiwilliger Basis eine Initiative zur psychologischen Beratung über Facebook zu starten, von ihren Freunden bestärkt. „Ich hatte auf meiner Seite mehrmals geschrieben, dass ich zur Freiwilligenarbeit im Rahmen eines organisierten Teams oder auch allein bereit wäre“, sagt sie.Im normalen Alltag behandelt Hanan in ihrer Praxis Kinder von vier bis 18 Jahre bzw. berät deren Eltern. Im Rahmen ihrer Kampagne waren jedoch auch Menschen wie Noha herzlich willkommen. Hanan erzählt: „Die Ausrufung des Ausnahmezustands kam ganz plötzlich. Von heute auf morgen brach der Kontakt mit meiner Arbeit und meinen Patienten ab, wie bei allen anderen auch. Ich sorgte mich um sie und suchte deshalb einen anderen Weg der Kommunikation. Alles schien so unsicher: Wie lange würde der Lockdown andauern, bevor der Virus endlich besiegt war? Wir wussten es nicht. Deshalb musste ich mit meinen Patienten in Kontakt bleiben, besonders weil der Lockdown Auswirkungen auf die Psyche zu haben schien. Zum Beispiel verschlimmerte sich der Zustand von Kindern mit Angstzuständen. Sie begannen Verhaltensweisen zu entwickeln, mit denen Eltern nicht umgehen konnten, wurden stur, ablehnend, ängstlich oder depressiv“.
An dieser Stelle setzte Hanan an. Doch die Dinge nahmen eine neue Wendung, als sich der Virus unter Kindern immer stärker ausbreitete. Daraufhin bot sie ihre Hilfe auch Erwachsenen an: „Ich war einfach bereit zu helfen. […] Danach entwickelte sich alles Schritt für Schritt“. Gleichzeitig entstanden zahlreiche Hürden.
Mangelnde Organisation bei der psychologischen Beratung
„Ich habe darauf gewartet, dass die psychologische Beratung von offizieller Seite aus besser organisiert wird, dass Teams gegründet und ins Feld geschickt werden, aber der Ausnahmezustand hat vieles verhindert. Unser Land war orientierungslos und überschattet von Zukunftsängsten“.„In Ausnahmesituationen greift man [als Psychologin] meist vor Ort ein, aber das ging bei Corona nicht. Die Priorität lag hier auf der medizinischen Versorgung von Patienten mit coronabedingten körperlichen Symptomen. Da waren wir Psychologen nicht von Nutzen. Wir mussten uns sozusagen etwas zurücknehmen. Ich begann dann Patienten, die sich vom Virus erholt oder fast erholt hatten, zu kontaktieren. Auch befasste ich mich mit Fällen, in denen Patienten infolge ihrer Viruserkrankung mit der Wahrnehmung von ‚Stigma‘ konfrontiert wurden“.
Hanan fügt hinzu: „Die Situation ist wirklich traurig, besonders für die allersten Opfer der Krankheit. Man hatte Angst vor ihnen, was sie daran hinderte, in den normalen Arbeitsalltag zurückzukehren. Selbst nach ihrer Heilung wollte niemand sie zu sich nach Hause lassen. […] Der Kontakt mit ihnen war sehr wichtig, um die Wahrnehmung von ‚Stigma‘ loszuwerden“.
Hanan konnte in diesen Fällen als Psychologin helfen. Später jedoch, als sich die Krankheitsfälle häuften und Ängste weniger gesellschaftlicher als medizinischer Natur waren, verlor Hanan den Kontakt zu ihren Patient*innen: „Für alle war es nun Priorität, sich eine medizinische Versorgung zu sichern. Trotzdem hielt ich mich bereit“.
„Ich bin seit der Schließung [meiner Praxis] immer noch als Freiwillige tätig. Manche Leute haben Schwierigkeiten, in die Normalität zurückzukehren, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Ich habe mit Jugendlichen gesprochen, die es zum Beispiel ablehnen, ins Leben zurückzukehren und noch immer den Kontakt aus der Distanz bevorzugen. Meine Kampagne geht also weiter“.
Hanan hilft dabei, Kinder von der Rückkehr in die Schulen zu überzeugen, aber das sei nicht leicht, berichtet sie: „Im Allgemeinen empfinden die Kinder das Zuhause bleiben als einfacher. In der Welt sehen sie eine Gefahr, ohne dass sie das so explizit formulieren. Außerdem fühlen sie sich allein und haben Angst, dass ihnen niemand hilft, sollten sie dieser Gefahr ausgesetzt sein“. Sie fügt hinzu: „Jeder Fall im Zusammenhang mit coronabedingten psychischen Erkrankungen hat seine Besonderheiten“.
Noha hat mit Hanan mehrere Online-Sitzungen zum Frustabbau absolviert und zieht eine positive Bilanz: „Wenn man sich Bilder von mir aus der Zeit davor anguckt, sieht man die Veränderung; ich war ein völlig anderer Mensch. In unseren wöchentlichen Sitzungen hat mir Hanan einen sicheren Raum zum Reden gegen, in dem ich meinen Frustrationen Luft machen konnte. Sie begleitete meine emotionale Entwicklung und beriet mich bei der Erziehung meiner Tochter, wenn die Dinge schwieriger wurden. Wir sind für sie mehr als nur eine Geldquelle. Ich habe das Gefühl, dass mein Umgang mit meiner Familie und meinen Gefühlen heute problemloser ist“.
Salah Malaysha folgt in Hanans Fußstapfen
Salah Malaysha gehört zu den wenigen Psycholog*innen, die Hanan während der Pandemie Beistand leisteten. Salah, der Sozialpsychologie an der Universität von Beirut studiert hat, arbeitet für verschiedene Einrichtungen, zum Teil als Freiwilliger. Er erzählt, dass er erstmals während des Krieges in Gaza 2014 Freiwilligendienst geleistet habe. Damals hätten die Krankenhäuser im Westjordanland viele Patient*innen aus dem Gazastreifen aufgenommen.Der aus dem Dorf Jaba‘ bei Jenin in der nördlichen Westbank stammende Salah beschreibt seine Freiwilligenarbeit während der Pandemie: „Ich half den Leuten dabei, Ruhe zu bewahren und auch zuhause mental gesund zu bleiben. Wir hatten bis dahin schon von vielen Problemen in palästinensischen Familien gehört, zwischen Kindern und Eltern oder zwischen Ehepartnern“.
Salah entwickelte einen Plan für ein breitgefächertes Angebot psychologischer Dienste, die, wie er sagt, etwas unsystematisch mit Unterstützung des Palestinian Counseling Centers und Spezialisten für psychische Gesundheit angeboten wurden. Bald schon erweiterte er sein Angebot über Jaba‘ und Jenin hinaus landeinwärts bis nach Nablus.
Am Palestinian Counseling Center bot Salah auch Hilfe und Rat per Telefon an. Er verbreitete die Nummer seines Beratungsdiensts über die sozialen Medien, damit möglichst viele Menschen in der Krise erreicht werden konnten. „Auf die psychologische Beratung am Telefon folgte später die Überweisung zu Einzelsitzungen“, erklärt er.
Salah erzählt weiter: „[Beim Angebot der Telefonberatung] konnte ich auf mein eigenes Training bei Psychologen zurückgreifen, aber auch auf meine früheren Erfahrungen mit Ferndienstleistungen sowie auf die Erfahrungen anderer Fachärzte, die während des Krieges im Westjordanland und im Gazastreifen gearbeitet haben. Wir stellten Lehrmaterialien für verschiedene Gruppen und Bedürfnisse zusammen. Darin findet man realistische Informationen und schnelle Antworten auf Fragen, die besonders für Erwachsene relevant sind“.
Herausforderungen
Die palästinensische Regierung, vertreten durch das Gesundheitsministerium, setzte in ihren Hilfsleistungen für Corona-Erkrankte vor allem auf die Bereitstellung von Betten und Sauerstoff in den Krankenhäusern. Das Bildungsministerium versuchte seinerseits, sozialpädagogische Berater*innen zu rekrutieren, um psychologische Fernberatung anzubieten. Hanan sah hier einen „Schwachpunkt“: „Wir haben nicht genug ausgebildet, um die Pandemie zu bewältigen.“Die Ausbildung von Beratungsteams durch das Gesundheitsministerium wie auch jegliches Handeln des Bildungsministeriums, so Hanan, seien „zu spät gekommen“. Das Bildungsministerium habe in den letzten Jahren immerzu versucht, akademische Lücken zu schließen, und dabei „die psychologische Lücke“ vernachlässig. Sport- und Kunstunterricht und alle außerschulischen Aktivitäten seien bereits abgesagt worden. So hätten die Schüler*innen keine Möglichkeiten gehabt, sich abzureagieren, was sich in zahlreichen Überweisungen an Privatkliniken niedergeschlagen habe.
Hanan und Salah mussten sich als Freiwillige großen Herausforderungen stellen, von denen die wohl größte der Mangel an Systematik und Organisation bei ihrer Arbeit gewesen ist. „Die Arbeit von uns Fachärzten verlief unsystematisch während des Lockdowns. Als die Maßnahmen des Ausnahmezustands dann langsam gelockert wurden, begannen die psychologischen Einrichtungen immer größere Fallzahlen aufzunehmen“.
Während der Pandemie, als Bemühungen um Prävention und die Bewahrung der physischen Gesundheit alle Sorgen um mentale Gesundheit überwogen, stellte Hanan ihr Wissen und ihre Erfahrung in den Dienst von etwa 20 Patient*innen: „Die Person beschrieb ihre Gefühle und die Hilfe, die sie sich erhoffte. Wir sprachen über Dinge wie Schuldgefühle oder die Angst vor dem Tod. Es war für sie wichtig, ihre Gefühle besser steuern und in gesunde Verhaltensweisen lenken zu können. Kinder verarbeiteten die Situation oft in Alpräumen, mit denen wir uns gemeinsam bei spielerischen Aktivitäten und Atemübungen auseinandersetzten. Auch die Eltern animierte ich, mit ihren Kindern zu spielen“.
Keine Ziellinie in Sicht
Bis heute führt Hanan ihre Initiative im Alleingang fort. „Für eine Expertin ist das ein Warnsignal“, sagt sie und fügt hinzu: „Idealerweise sollte uns in Krisenzeiten ein Berater oder Betreuer zur Verfügung stehen, der uns berät und leitet. Dabei hat die Teamarbeit Vorteile“.„Man hat mich nicht strukturell oder institutionell eingebunden und das hat mich gestört“, sagt Hanan schließlich. „Ich hätte mich gerne einem Team angeschlossen, da ich mit meiner Initiative allein dastand. Vielleicht waren da Angst und Unsicherheit mit ihm Spiel. Ohnehin waren die Menschen bei der Frage, wie Erkrankte medizinisch behandelt werden sollten, sehr gespalten, so auch später bei der Frage nach psychologischer Hilfe. Bis jetzt ist diese Unterstützung in keinem bestimmten Rahmen organisiert“.
Auf die Frage, wie Hanan ihre Kampagne so weit bewertet, lächelt sie und sagt: „Vielleicht bin ich mit dem Angebot zu eilig gewesen. Vielleicht hätte ich noch etwas warten sollen, aber ich wollte nicht, dass Hilfe zu spät kommt. Ich bin mit meiner Erfahrung während der Pandemie zufrieden. Sie hat mich viel über die menschliche Natur in Krisenzeiten gelehrt“.
Hanan and Salah: Zwei Ausnahmeärzte, die inmitten widriger Umstände und trotz fehlendem staatlichen Interesse die Menschen Palästinas nicht mit ihren Sorgen allein ließen.
Salah fordert: „Wir brauchen Teams von Freiwilligen und Institutionen, die in jedem Gouvernement bereitstehen. Wir müssen die derzeit zerstreuten Bemühungen auf offizieller Ebene organisieren und die Freiwilligen auch vergüten“. Enttäuscht fügt er hinzu: „Keine Behörde wusste die Freiwilligenarbeit der Psychologen während der Pandemie zu schätzen. Keiner hat ihnen dafür gedankt“.
Der kleine Salam kehrte nach seiner Sitzung mit Hanan nach Hause zurück, voller wiedergewonnenem Vertrauen in seine schulischen Fähigkeiten. Seine Mutter ist stolz auf ihn. Schulkinder sind sich der Komplexität dieser riesigen Welt noch nicht bewusst – doch Menschen wie Hanan können ihnen dabei helfen, sie zu verstehen und akzeptieren.
April 2022