Zu einer bestimmten Zeit, und zwar von den späten 1950er bis zu den frühen 1980er Jahren, waren es tatsächlich die Amerikaner, die tunesische Schulkinder mit Schulbroten versorgten. Der Agricultural Trade Development and Assistance Act von 1954 (Public Law 480), später auch Food for Peace-Programm genannt, hatte einen humanitären Anstrich. Doch in Wirklichkeit steckten strategische Ziele dahinter. Eine Geschichte über die Zerstörung traditioneller Esskultur.
Taoufik Khedris Bäckerei in Jbel Lahmar, einem Stadtviertel der tunesischen Hauptstadt Tunis, liegt nur ein paar Ecken von Fatmas Haus entfernt. Fatma hatte dem heute 62jährigen Bäcker einst in der Schulkantine Baguette als Pausenbrot ausgehändigt.„Jeden Morgen kam Fatma, Gott segne sie, und brachte uns Brot und Butter und alles. Schokolade. Schokomilch. Das war einfach grandios, tayara, mish normale“, schwärmt Taoufik Khedri. Wir sitzen in seiner Bäckerei. Er hat gerade die Backöfen ausgeschaltet.
„Petit Pain“ habe man das Schulbrot genannt, korrigiert er mich, als ich beim Gespräch über die Schulspeisung von damals das Wort „Baguette“ verwende.
Trotzdem denke ich, dass die Kinder so etwas wie Baguette bekommen haben müssen. Und tatsächlich greift Taoufik hinter den Verkaufstresen und nimmt ein Baguette, um es mir zu demonstrieren: „Man nimmt es, schneidet es auf und macht ein Petit Pain draus, wie bei einem Sandwich. Sie haben Butter drauf getan und Käse. Es kam von den Amerikanern.“
Es waren tatsächlich die Amerikaner, die von den späten 1950er bis zu den frühen 1980er Jahren tunesische Schulkinder mit Schulbroten versorgten. Infolge der Industrialisierung der Landwirtschaft in den USA hatten US-Farmer enorme Überschüsse bei der Weizenproduktion erzielt. Der Staat kaufte das überschüssige Getreide auf und lagerte es ein, um die Preise auf dem Binnenmarkt stabil zu halten. Durch die Einlagerung war der Preisverfall freilich nur vorübergehend abgewendet. Einige Politiker kamen deshalb auf die Idee, die Getreidevorräte für ein höheres Ziel einzusetzen, und sprachen ihre Pläne auch offen aus: „Wenn man mit diesem überschüssigen Weizen etwas Vernünftiges macht, ließe sich dadurch die Ausbreitung des Kommunismus wesentlich effizienter eindämmen als durch die Wasserstoffbombe.“
In Wirklichkeit waren es also strategische Ziele, die hinter dem Ernährungsprogramm des Public Law 480 steckten, obwohl die Kampagne nach außen hin einen humanitären Anstrich hatte. Wie diese Ziele unter anderem aussahen, steht in den betreffenden Unterlagen der US-Regierung: „Kinder, die man frühzeitig an den Geschmack von Brot, Milch, Maisgrieß und anderen Nahrungsmitteln aus den USA gewöhnt, sind die potenziellen Kunden für die Handelsgeschäfte von morgen.“ Max Ajl, ein Post Doc-Agrarwissenschaftler von der Universität Wageningen in den Niederlanden, erklärte mir vor ein paar Monaten bei einem Treffen in Tunis, es habe sich um eine von oben gesteuerte Propaganda-Kampagne gehandelt. Demnach wurde zum Beispiel Weizen als gutes und Gerste als schlechtes Getreide hingestellt. Gerste sei Viehfutter, brachte man den Kindern bei. Couscous kam in Ernährungsempfehlungen der 1960er Jahre nicht vor. Sorghum wurde in den 1980er Jahren in Nefza von niemandem mehr gegessen.
In der südtunesischen Stadt Douz bekamen zwar alle Schulkinder ihr Brot, aber sie wurden dabei unterschiedlich behandelt, je nach Herkunftsfamilie. „Es gab zwei Sorten“, erzählt Mohamed Fekih Chedly, ein 64jähriger Tischler, der in der Hauptstraße von Douz eine eigene Werkstatt betreibt. „Die Schüler, deren Eltern der Mittelschicht angehörten, durften am Tisch sitzen und bekamen Brot mit Öl, manchmal auch mit Käse. Unsereins bekam sein Viertel Khobza in die Hand gedrückt, manchmal auch Milch, und dann wurden wir weggescheucht.“
Es ist nicht anzunehmen, dass tunesische Schulen im Rahmen des PL 480-Ernährungsprogramms explizit angewiesen worden sind, bestimmte Schülergruppen zu diskriminieren. Eigentlich wollte man mit den Weizenlieferungen dafür sorgen, dass soziale Spannungen nicht weiter zunehmen. Das bedeutete allerdings auch, dass Eigentümer von großen und mittelgroßen Landflächen ihren Status behalten sollten. Nach der Unabhängigkeit von Frankreich, so der Forscher Max Ajl, entschied sich die tunesische Regierung, die Großgrundbesitzer in Tunesien, darunter auch Franzosen mit über 10 000 Hektar Land, in Ruhe zu lassen, anstatt die Flächen wieder an Kleinbauern zu verteilen.
Aus diesem Grund bekam Tunesien zum Beispiel allein im Jahr 1960 im Zuge des PL 480- Ernährungsprogramms insgesamt 72 000 Tonnen Weizen.
Das US-Ernährungsprogramm Food for Peace war nur für einen bestimmten Zeitraum ausgelegt. Doch jetzt, wo die Schulbrotverteilung verschwunden ist, bleibt bei den Menschen das Gefühl zurück, dass man ihnen etwas weggenommen hat.
„Die tunesische Regierung musste eine schwerwiegende Entscheidung treffen: Die Leute hatten Hunger. Aber man wollte trotzdem keine Bodenreform. Also – was tun? Man konnte die Menschen ja nicht einfach hungern lassen! Denn: Wer hungert, macht irgendwann Randale“, erläutert Max Ajl die damalige Situation. „Eine mögliche Revolution – das machte der Regierung seinerzeit am meisten Kopfzerbrechen.“
Taoufik Khedris Vater verließ in den 1950er Jahren als 18jähriger seine Heimatstadt Matmata im Süden des Landes, um in der Hauptstadt Tunis Arbeit zu suchen. Er wurde Bäcker, heiratete in Matmata, ging dann wieder zurück nach Tunis, mit seiner Frau. Während er in seiner Bäckerei Baguettes an die Heerscharen von zugezogenen Arbeitern verkaufte, die eine schnelle Mahlzeit brauchten, buk seine Frau das Brot zu Hause weiterhin nach traditionellem Rezept.
Als Kind hatte Taoufik Khedri immer die traditionellen Tabouna-Fladen seiner Mutter gegessen, aus Grieß, das schmeckte ihm besser als das mit Weißmehl gebackene Petit Pain in der Schule. „Das Brot daheim war besser“, erzählt er, „meine Mutter hat Öl verwendet und Eier rein getan, und es war mit Grieß. Das ist dann was ganz anderes, das ist Extraklasse.“
Dann klatscht er in die Hände und ruft: „Aus, vorbei und tschüss! Die Zeiten haben sich geändert. In 15 Minuten kann man 300 Baguettes herstellen. Das ist ein Riesenunterschied.“
Fünf Minuten Autofahrt von Taoufik Khedris Bäckerei entfernt bäckt die 57jährige Halima nach wie vor Tabouna-Fladen bei sich daheim, um sie zu verkaufen und ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen. Sie weiß, dass dieses Brot besser ist als Weißbrot: „Tabouna würde niemand achtlos verschwenden, beim Baguette ist das anders.“ Trotzdem leuchten ihre Augen, wenn sie an das Petit Pain in der Schule zurückdenkt: „Das war Weißmehl, aber ich hab‘s gegessen und es hat mir geschmeckt, leckeres Brot mit Milch.“
Die Zeiten des Petit Pain in tunesischen Schulen sind vorbei. Das US-Ernährungsprogramm Food for Peace war nur für einen bestimmten Zeitraum ausgelegt und sollte eine Revolution verhindern. Doch jetzt, wo die Schulbrotverteilung aus den Schulen verschwunden ist, bleibt bei den Menschen erst recht das Gefühl zurück, dass man ihnen – wieder mal – etwas weggenommen hat. „Heute gibt es in den Schulen weder Brot noch Milch – nichts“, sagt Halima, „nicht mal Wasser geben sie ihnen.“
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in englischer Sprache im Broudou Magazine.
November 2023