Keine Frage: Olivenöl ist in Tunesien ein unschätzbar wertvolles Gut, sowohl in ökonomischer und ökologischer als auch in kultureller und spiritueller Hinsicht. Tunesien zählt zu den wichtigsten Olivenölproduzenten der Welt. Bei einer entsprechenden Zertifizierung könnte Tunesien theoretisch große Mengen biologisch-organisches Olivenöl auf dem globalen Markt anbieten, weil die meisten tunesischen Olivenhaine nach jahrhundertealten Traditionen bewirtschaftet werden.
Die aktuellen Strukturen, die den Olivenanbau und die Olivenölherstellung in Tunesien prägen, spiegeln allerdings nicht unbedingt die tiefe Verbundenheit und die große Ehrfurcht wider, die die Tunesier gegenüber diesem Grundnahrungsmittel einst empfanden. Kleinere Produzenten tun sich oft schwer, effizient zu wirtschaften und Zugang zu profitablen Märkten zu erlangen. Weder beim Qualitätsmanagement noch bei nachhaltigen Exportpraktiken gibt es eine gemeinsame Strategie. Und die Situation auf dem Binnenmarkt wird von Experten als „rundum anarchisch“ bezeichnet.Wie lässt sich die aktuelle Lage einschätzen? Und wie lässt sich ein System schaffen, das gerechter ist und besser funktioniert? Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über den Status quo der Branche gegeben werden, um anschließend ein paar Ideen und Initiativen vorzustellen, die auf eine Verbesserung der Produktionsbedingungen und der Produktqualität zum Wohle aller Beteiligten abzielen.
Vorab die grundlegende Frage: Woher kommen die Oliven? Generell unterscheidet man hier zwei Möglichkeiten. Zum einen gibt es diejenigen Produzenten, die alle Phasen der Produktion abdecken, und zum anderen diejenigen Produzenten, denen nur die Olivenbäume gehören. Bei den ersteren steht an vorderster Stelle die CHO-Gruppe aus Sfax, größter Olivenölproduzent in Tunesien, mit Zweigstellen in über 40 Exportländern. Das Öl der CHO-Gruppe wird in Flaschen abgefüllt und macht hier über 55 % des tunesischen Gesamtexports aus. CHO ist darüber hinaus die einzige Firma in Tunesien, die berechtigt ist, alle chemischen und sensorischen Qualitätsanalysen in zertifizierten hauseigenen Labors durchzuführen. Weil die Vermarktung ohne Zwischenhändler abläuft, sind die insgesamt sechs CHO-Marken weltweit zu moderaten Preisen erhältlich. Inzwischen gibt es sogar CHO-Olivenöl für Haustiere.
Die meisten tunesischen Produzenten decken jedoch nicht alle Phasen der Produktion ab. Für sie herrschen deshalb andere Ausgangsbedingungen. Kleinere Olivenbauern verkaufen ihre Oliven oder verpachten sogar manchmal ihre Bäume, wenn sie das Land nicht mehr selbst bewirtschaften können. Abnehmer sind in beiden Fällen die sogenannten Khadhara, die Frischwarenhändler, die die Oliven an Sammelstellen verkaufen, von wo sie weiter an die Ölmühle gehen. In der Ölmühle wird dann das Olivenöl produziert und entweder direkt exportiert oder an einen Exporteur verkauft. Der Exporteur kann wiederum nur über Geschäftsvermittler mit den Importfirmen im Ausland ins Geschäft kommen.
Die Geschäftsvermittler erhalten im Schnitt 1 % des Endpreises, die Supermärkte 30 %. Im Vergleich dazu ist der Betrag, den die kleinen Bauern ursprünglich für ihre Oliven bekommen, verschwindend gering.
Die Anthropologin Soraya Hosni hat das Startup-Unternehmen Clever Harvest gegründet, um nach Alternativen zu den beschriebenen Mechanismen zu suchen. Clever Harvest unterstützt tunesische Bauern dabei, transparent zu produzieren und direktere Vertriebswege zu finden. In der tunesischen Küstenstadt Sousse befindet sich das Harvest Lab, ein Intelligenzzentrum für branchenspezifische Weiterbildung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Abgerundet wird das Konzept durch Ölverkostungen mit Lerneffekt in eigens dafür vorgesehenen Räumlichkeiten des Harvest Lab.
2021 hat Clever Harvest 16 junge Männer und Frauen zu sogenannten Agri-Tracern ausgebildet. Deren Aufgabe besteht darin, für mehr Transparenz in der Nahrungsmittelproduktion zu sorgen. Wenn Olivenöl mit einem hohen Anteil an Antioxidantien und mit langer Haltbarkeit, aber ohne Zusatzstoffe produziert werden soll, müssen die Oliven auf spezielle Weise geerntet, gelagert, transportiert und weiterverarbeitet werden. Die Agri-Tracer haben gelernt, verschiedene Geschmacksnuancen zu unterscheiden. Sie wissen, wie man die Produzenten bei der Herstellung von qualitativ hochwertigen Ölen durch bestimmte Maßnahmen unterstützen kann. Einige dieser Maßnahmen sind denkbar simpel, zum Beispiel ein allgemeines Rauchverbot auf dem Ölmühlengelände. Des Weiteren führen die Tracer die digitale Dokumentierung der Produktionsschritte durch, damit die Produzenten ein Maximum an Transparenz gewährleisten können. Man werde hier, so Soraya Hosni, immer wieder mit der hochgradigen Individualisierung in der Olivenölbranche konfrontiert. Es wäre viel sinnvoller, gemeinsam und strategisch vorzugehen, um die vorteilhaften Grundvoraussetzungen besser ausnutzen zu können, anstatt Anreize für das Anlegen neuer Olivenhaine ohne Nachhaltigkeitseffekt zu schaffen. So könnten sich zum Beispiel mehrere Bauern ihre Ressourcen zusammenführen und ihr Öl gemeinsam, als Vertreter einer Region oder eines Landes, auf Ernährungsmessen präsentieren, wodurch das Label „Made in Tunisia“ mehr Zugkraft erhalten würde.
Soraya Hosni stellt auch die Strategie der Regierung infrage, die Bauern mit subventionierten Olivenbaum-Setzlingen zu beglücken, die teilweise aus dem Ausland kommen und gar nicht für tunesische Böden geeignet sind. Sie schlägt vor, der Staat solle stattdessen lieber intelligent investieren, indem er im großen Stil alle Produkte zertifiziert, die nachweislich aus biologisch-organischem Anbau stammen.
Ohne zusätzlichen Materialaufwand könnte auf diese Weise 90 % des tunesischen Olivenöls als zertifiziertes Bio-Olivenöl deklariert werden. Spanien produziert zwar mehr Olivenöl als Tunesien, aber nur 10 % davon hat Bio-Qualität.
„Der Staat möchte die Produktion von Olivenöl für den Export steigern und den heimischen Verbrauch systematisch reduzieren. Olivenöl soll durch weniger nahrhafte oder sogar gesundheitsschädliche Produkte ersetzt werden. Dadurch wird die Bevölkerung um ihr natürliches Recht gebracht, zu konsumieren, was sie selbst produziert hat.“
„Der Staat möchte die Produktion von Olivenöl für den Export steigern und den heimischen Verbrauch systematisch reduzieren. Olivenöl soll durch weniger nahrhafte oder sogar gesundheitsschädliche Produkte ersetzt werden. Dadurch wird die Bevölkerung um ihr natürliches Recht gebracht, zu konsumieren, was sie selbst produziert hat.“
An die Diffamierungskampagnen gegen Olivenöl zu Zeiten, in denen der Import von Pflanzenölen durch eine entsprechende Politik gefördert wurde, erinnert sich heute kaum noch jemand. Doch die Langzeitfolgen sind für jedermann sichtbar: In den Regalen der Läden stehen inzwischen mehr subventionierte „Importmischungen“ aus Pflanzenöl als heimisches Olivenöl. Dhouha Mizouni Chtourou, die als Branchenexpertin über umfassende praktische Olivenöl-Erfahrung in allen Abschnitten der Wertschöpfungskette verfügt und momentan als Geschäftsvermittlerin auf internationalen Märkten tätig ist, betont, dass es dringend notwendig sei, pädagogisch auf tunesische Konsumenten einzuwirken. Ein besonderes Anliegen ist ihr dabei der Kauf von minderwertigem Lampantolivenöls, das nicht für den menschlichen Verzehr geeignet ist, auf dem irregulären Markt.
„Wir bilden uns hierzulande gern ein, dass wir eine Menge über Olivenöl wissen, aber entweder ist das nicht so oder unser Wissen beruht auf Fehlinformationen. Wenn wir jedoch besser Bescheid wissen, wird sich unser Konsumverhalten ändern. Kleinere Hersteller werden es leichter haben, ihre Produkte zu vermarkten, und Verbraucher werden Produkte kaufen, die besser für die Gesundheit sind. Anderswo betrachtet man Olivenöl als ,gesundes‘ Produkt. Bei uns gilt es als Massenkonsumartikel“, erklärt sie.
Diese Situation verschärft sich zusätzlich durch nicht vorhandene Qualitätskontrollen für den heimischen Markt. „Man kann sich bei nichts sicher sein“, warnt Dhouha Mizouni Chtourou. Sie selbst ist Mitglied einer privaten Prüfungskommission aus zertifizierten Olivenöl-Verkostern, deren Aufgabe darin besteht, Olivenöl allein durch sensorische Prüfung bestimmten Handelsklassen zuzuordnen. Solche privaten Kommissionen, die aus sieben bis zwölf Mitgliedern bestehen und vom International Olive Oil Council zertifiziert wurden, sind in Tunesien gerade im Kommen. 2014 gab es nur eine Kommission dieser Art, mittlerweile sind es über zwanzig. Aber Dhouha Mizouni Chtourou wünscht sich, dass alle Tunesierinnen und Tunesier wieder ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür entwickeln, wie vielschichtig Olivenöl eigentlich sein kann.
„Es gibt eine Menge fabelhafter Sorten, die aber nur wenig bekannt sind. Viele von uns wissen einfach nicht, wo sie die wertvollen Produkte unseres Landes finden können oder wie man sie verwendet. Man sollte mit Kindern arbeiten, damit sie später, wenn sie Olivenöl kaufen, wissen, was Qualität ist. Das hat doch wirklich nichts mit Hexerei zu tun, das kann man ganz leicht lernen.“
Wenn das Image und der Stellenwert von tunesischem Olivenöl in Tunesien selbst verbessert werden würde, könnte das ganze Land davon profitieren. Exportiert man hingegen weiterhin Öl zu Schleuderpreisen nach Europa, wo es verschnitten und als „europäische Mischung“ verkauft wird, haben nur wenige etwas davon.
Es gibt viele denkbare Szenarien: An Flughäfen könnten überall Informationen über tunesisches Olivenöl hängen. Hotels könnten Olivenöl-Verkostungen anbieten und in ihren Mitbringsel-Shops heimische Marken verkaufen. Stattdessen ist es aber momentan eher so, dass viele Touristen bei der Heimreise kein einziges Mal mit tunesischem Olivenöl in Berührung gekommen sind. Wenn das Image und der Stellenwert von tunesischem Olivenöl in Tunesien selbst verbessert werden würde, könnte das ganze Land davon profitieren. Exportiert man hingegen weiterhin Öl zu Schleuderpreisen nach Europa, wo es verschnitten und als „europäische Mischung“ verkauft wird, haben nur wenige etwas davon.
An dieser Stelle ein paar Worte zum Export. Dhouha Mizouni Chtourou erklärt, dass der mit Abstand größte Teil des tunesischen Olivenöls nach Spanien exportiert wird, gefolgt von Italien und den USA. Spanien importiert 200 000 Tonnen, die USA dagegen weitaus weniger, nämlich 40 000 Tonnen. Spanische Händler verschneiden das tunesische Öl und exportieren es dann in die USA. Warum exportiert Tunesien nicht direkt in die USA? „Weil wir den Markt nicht richtig verstehen“, sagt Dhouha Mizouni Chtourou. Dali Boubaker, Inhaber der Marke Olissey, die für preisgekröntes natives Olivenöl bekannt ist, teilt die Ansicht, dass die meisten Produzenten Einzelkämpfer seien. Sie alle könnten in höchstem Maße profitieren, wenn sie als Kooperativen zusammenarbeiten würden, indem sie zum Beispiel gemeinsam eine Ölmühle kaufen und betreiben, was eine schnelle Verarbeitung erleichtern würde, die wiederum für die Herstellung von hochwertigem Olivenöl erforderlich ist.
Europa wird häufig als größter Olivenöl-Konsument eingestuft – zu Unrecht. Korrekter wäre es, Europa als größten Importeur zu bezeichnen, wobei ein Teil des importierten Öls von dort aus weiterverkauft wird. Die USA sind hingegen das Land ohne nennenswerte Olivenölproduktion, das am meisten Olivenöl konsumiert. Der Verbrauch liegt bei 450 000 Tonnen jährlich, aber nur 2 % davon stammen aus heimischer Produktion. Europäische Länder streichen enorme Gewinne ein, indem sie tunesisches Olivenöl importieren und zu europäischen Preisen weiterverkaufen, sogar außerhalb Europas. Die Europäer selbst konsumieren hingegen eher einheimische Öle. Soraya Hosni bringt es auf den Punkt: „Italien konsumiert mehr als es produziert und exportiert mehr als es produziert. Der Verbrauch liegt bei 450 000 Tonnen, der Import bei 600 000 Tonnen. Und woher kommen die 600 000 Tonnen? Aus der ganzen Welt.“
Es gibt zwar ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Tunesien. Das gilt jedoch nicht für Olivenöl. Hersteller zahlen deshalb sage und schreibe 1,24 € Steuern für jeden Liter Olivenöl. Soraya Hosni empfiehlt deshalb, sich gar nicht mehr auf den europäischen Markt zu konzentrieren, sondern mit Abnehmern auf rentableren Märkten in Nord- und Südamerika zu kooperieren, zum Beispiel in Brasilien, Mexiko, den USA und Kanada.
Es gäbe noch viel zu berichten über die ökonomischen Defizite und das ökonomische Potenzial der Olivenölbranche und auch über die ökologischen Schäden durch die vorherrschenden profitorientierten Praktiken (vgl. hierzu: Artikel von Meshkal auf Seite …). Ganz zu schweigen von den Arbeitern und vor allem den Arbeiterinnen, die oft nur halb so viel verdienen wie ihre männlichen Kollegen, aber ebenso wie diese das Rückgrat der tunesischen Agrarindustrie sind. Bei den angestrebten Nachbesserungen muss es deshalb für staatliche und andere gemeinschaftliche Initiativen zur Herzensangelegenheit werden, das Agrarland und diejenigen zu schützen, die es bewirtschaften.
Für ein Land, das sich in vielerlei Hinsicht mit dem Olivenöl identifiziert, sollte es sich eigentlich von selbst verstehen, dass die Branche umgestaltet werden muss, damit sich Geben und Nehmen die Waage halten, in der Hoffnung, dass zukünftige Generationen von diesem reichen Geschenk der Natur profitieren und es großzügig teilen können.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in englischer Sprache im Broudou Magazine.
Dezember 2023