Unendlichkeit  Kurzgeschichte von Engy Ashraf

Infinity
Infinity via flickr.com, CC BY-SA 2.0

Eine gedankenvolle Kurzgeschichte von Jungautorin Engy Ashraf.

Unendlichkeit

Gedankenverloren schrieb ich das Wort auf ein Stück Papier. Wie bedeutungsvoll es doch war! Ich dachte einen Moment lang darüber nach. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte hat dieses Wort unzählige Träumer in seinen Bann gezogen. Schon in den Legenden der alten Pharaonen, Römer, Griechen und anderer Hochkulturen hatte es einen besonderen Stellenwert. Polytheismus, die Abrechnung, ewige Qualen oder unendliche Gnade… Immer fanden sie einen Weg, den vermeintlich Sterblichen unsterblich zu machen.

Ob es uns gefällt oder nicht: Einige menschliche Qualitäten sind beständig, bleiben von der Zeit unberührt, und dies beweist schlussendlich, dass wir eben doch alle zur selben Art gehören. Deshalb klammern wir uns auch heute noch an dieselbe Idee von der Unendlichkeit, doch tun wir es den Gegebenheiten unserer Zeit entsprechend. Fast überall gibt es Orte, wo Menschen ihre Namen, die Namen ihrer Geliebten oder ihre Ansichten an alles Mögliche – Häuserwände, Denkmäler, Treppen, sogar an die Türen öffentlicher Toiletten – gesprayt haben. Wenn du deine alten Schulbücher aufklappst, stellst du fest, dass dir damals, vor zehn Jahren, eine liebe Mitschülerin die Worte „X war hier und sie liebt dich XOXO“ dort hineingekritzelt hat. Du öffnest ein anderes Schulbuch und findest ein gesamtes Kapitel über die Unendlichkeit, dieses komplexe Etwas, das du damals in deiner Schulzeit als die Buchstaben „lim“, darunter die horizontale Acht, kennengelernt hast. Es ist die gleiche horizontale Acht, die dir deine beste Freundin vielleicht irgendwann in Form einer Kette als Zeichen eurer ewigen Freundschaft zum Geburtstag schenken wird. Nachdem sie das getan hat, gehst du nach Hause, öffnest dein streng geheimes Tagebuch, um dich später, wann immer du es wieder aufschlägst, daran zu erinnern, wie unvergesslich der Tag gewesen war. Vielleicht legst du dem Text noch ein Foto bei, eine weitere Erfindung, mit der unser Wunsch, einen Moment weiterbestehen zu lassen, seinen Ausdruck findet. Eine Freundin sagte einmal zu mir, sie hätte gerne einen Hund, denn dann gäbe es endlich jemanden, der ihr nachtrauere, wenn sie stirbt. Sie meinte es sarkastisch, natürlich, aber ich konnte damals nicht darüber lachen. Ein anderer Freund jammerte und schimpfte den ganzen Tag, weil seine Verlobte mit ihm Schluss machen wollte, nur, weil er den gemeinsamen Jahrestag vergessen hatte, was ihr zufolge aber bedeutete, dass er sie vergessen und nicht mehr lieb hatte.

Seien wir mal ehrlich: Wir alle wollen nicht an das Ende glauben, wollen sein Kommen immerzu mit unseren Taten verneinen. Jeder tut dies auf seine eigene Art und Weise. Die einen mit Macht und Geld, manche mit Wissen und Forschung, wieder andere mit Nachwuchs und Beziehungen. Niemand will hinter dem schwarzen Vorhang verschwinden, ehe das Stück zu Ende ist. Manchmal nicht einmal dann. Niemand will gehen, zumindest nicht, ohne Spuren zu hinterlassen, so wie Kinder, die völlig durchdrehen, wenn jemand ihre Fußabdrücke am Strand oder im Schnee zertrampelt. Selbst wenn niemand sie zertritt, wird eine Welle oder der Wind sie verwischen… für immer.

Ja, wir wollen bleiben… so lange wir können, solange das Meer wellenlos und der Winter windlos ist. Doch das klingt nicht nach einer sonderlich langen Zeit, oder? Es klingt nicht so, als würde sie reichen, nicht einmal ansatzweise. Und doch: Manche Menschen brauchen gar nicht viel länger. Manche Menschen bleiben in unseren Erinnerungen als Teil dieses einen unvergesslichen Moments, egal wie lange ihr Leben eigentlich gedauert hat. Manche Menschen halten sich nicht an die Regeln der Natur und leben ewig. An sie erinnert man sich so oft, dass ihre Existenz in diesen besonderen Erinnerungen…

Unendlich ist.