Kunst
Krieg muss in die Sprache der Kunst übersetzt werden

Frauen mit Kindern sitzen zusammen. © Allfilm

Trauma muss übersetzt werden, Krieg muss übersetzt werden – in verschiedene Sprachen und Medien.
 

Karmen-Eliise Kiidron

Von Putins Befehl an die russischen Streitkräfte zum Einmarsch in ukrainische Gebiete erfuhr ich am Morgen des 24. Februars, als ich verschiedenen Redner*innen bei der Zeremonie zum Jahrestag der Gründung der Republik Estland am Morgen zuhörte. Ist das gerade wirklich passiert? Am Abend zuvor war von einem Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze die Rede gewesen. Eine solche Vorbereitung konnte nur eines bedeuten. Nachrichten vom Krieg zu erhalten war schwer, besonders an dem Tag, an dem wir unsere Freiheit in Estland feierten. Da ich in einem freien Estland aufgewachsen war, schenkte ich solchen Gefühlen oder Gedanken wenig Beachtung, aber der blutige Krieg, der nun im Nachbarland geführt wurde, konnte mich nicht kalt lassen.

Im Laufe der Tage erreichten mich über die sozialen Medien und Nachrichtensendungen monströse Bilder und Beschreibungen vom Kriegsgebiet. Zum ersten Mal sind wir in der Lage, in Echtzeit zu verfolgen, wie Städte bombardiert werden, Menschenleben verloren gehen und Häuser in Trümmern liegen. Die Freiheit, die man sich lange aufbauen musste, ist innerhalb von Tagen vorbei.

Das Argument, dass die Schrecken des Krieges in Form von Bildern und Videos auf solchen Kanälen mit der breiten Öffentlichkeit geteilt werden sollten, hat mich in diesen Tagen sehr zum Nachdenken angeregt. Natürlich lautet die Antwort: Ja, egal wie abscheulich die Aufnahmen auch sein mögen. Darüber hinaus ist es aber wichtig, über diese Ereignisse nicht nur in den Nachrichten zu sprechen, sondern sie auch in Musik, Tanz, Film, Literatur, Theater und bildender Kunst widerzuspiegeln. Jedes Medium wird benötigt, um Informationen zu übermitteln.

Kunst bietet die Möglichkeit, den Krieg und seine Verbrechen in das kulturelle Gedächtnis einzubrennen. Es ist unerlässlich, die Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren, aber auch die Möglichkeit zu schaffen, sie immer wieder neu zu interpretieren und zu verarbeiten, um sie zukünftigen Generationen näherzubringen. Erinnerungen an Kriege – in deren Strudel auch Est*innen gefallen sind – sind im kulturellen Gedächtnis Estlands besonders lebendig – gerade, weil sie oft in der Kunst dargestellt wurden. Ich nenne einige Beispiele aus der Filmkunst – „Namen auf einer Marmorplatte“ (estn. Nimed marmortahvlil), „Land windwärts“ (estn. Tuulepealne maa), „1944“, „Schlafwandler (estn. Somnambuul)“, „Die kleine Genossin“ (estn. Seltsimeeslaps), „Im Seitenwind“ (estn. Risttuules). Nicht all diese Filme stellen direkte Kriegshandlungen dar. Zum Beispiel konzentriert sich der Film „Schlafwandler“ (estn. Somnambuul) auf die Gefühle und Erfahrungen der jungen Frau Eetla. Diese entscheidet sich während des Zweiten Weltkrieges, bei ihrem Vater, dem Leuchtturmwächter, zu bleiben und nicht mit einem Boot aus dem Fischerdorf zu fliehen. Irgendwann treffen russische Soldaten ein, denen auch Eetla zum Opfer fällt und von denen sie vergewaltigt wird. „Schlafwandler" habe ich Anfang Januar diesen Jahres gesehen. Nach der Filmvorführung fand ein Gespräch mit dem Regisseur des Films, Sulev Keedus, statt. In dem Gespräch erwähnte Keedus, dass die Vergewaltigungsszenen bei der Veröffentlichung des Films stark kritisiert wurden, als wären sie die abscheulichen Gedanken des Filmemachers selbst. Der Regisseur betonte jedoch, dass Gewalt gegen Frauen Teil des Krieges sei. Der gleiche Gedanke wurde von Susanna Veevo und Birgit Poopuu in der jüngsten Kuku-Radiosendung „Externer Bestimmer“ (estn. Välismääraja) erneut aufgegriffen. Im Januar war das etwas, woran ich vorher nie gedacht hatte. Ein paar Monate später wurde ich jedoch mit Nachrichten aus Butscha konfrontiert.

Ein weiterer Film, der sich ebenfalls mit dem Leben von Zivilist*innen auseinandersetzt, ist „Die kleine Genossin“ (estn. Seltsimeeslaps). Im Mittelpunkt des Films steht Leelo, ein heranwachsendes Vorschulkind in der UdSSR, dessen Mutter verhaftet und später deportiert wird. Gleichzeitig versucht Leelo, den Verlust Mutter zu verarbeiten und die neue staatliche Ordnung zu verstehen. Offensichtlich ist das alles zu viel. Die Hauptmotive des Films sind nicht nur, Ereignisse wie diese darzustellen, sondern auch, das Trauma eines Kindes zu zeigen und das Publikum in den Alltag junger Menschen zu versetzen, die mit den Folgen des Krieges aufwachsen mussten.

Sowohl „Schlafwandler“ als auch „Die kleine Genossin“ sind Filme über das Leben einfacher Menschen, die vom Eigeninteresse fremder Mächte missbraucht werden. Neben reinen Kriegsfilmen, in denen wir Soldaten in Schützengräben oder auf Schlachtfeldern sehen und die ebenfalls ihren kulturellen Wert haben, ist es dennoch wichtig, die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Alltagsleben zu lenken. Dieses kann nicht einfach aufgrund eines Krieges pausiert werden. Jeder verliert im Krieg. Und genau diese Darstellung durch die Kunst spielt eine wichtige Rolle bei der Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses.

Die Darstellung des Krieges in der Kunst kann auf unterschiedliche Weise passieren. Kunst hat die Fähigkeit, zu lehren sowie sich selbst zu vermitteln und zu beschreiben. Das bedeutet, dass sie durch die Verarbeitung von Kriegstraumata in einem künstlerischen Text den Menschen die Möglichkeit bietet, andere kulturelle Erfahrungen kennenzulernen und sich aktiv zu bilden. Je mehr sich ein Kulturraum selbst vermittelt und kommuniziert, desto offener wird er.

Trauma muss übersetzt werden, Krieg muss übersetzt werden – in verschiedene Sprachen und Medien. Filme, Inszenierungen, Malerei, Gesang, Tanz, Selbstausdruck müssen stattfinden. All dies bietet eine Grundlage für Bewusstsein, Lernen und Heilung. Die Augen vor dem Krieg zu verschließen und ihm zu entfliehen, bringt uns nicht weiter. Um den Krieg und die damit verbundenen Gefühle leichter zu verdauen und zu akzeptieren, muss man Versöhnung finden, Frieden schließen mit diesen Gefühlen. Dazu ist es wichtig, alle Gefühle einmal zuzulassen, sie nicht zu verstecken und zu verbergen, sondern sie nach Möglichkeit auf irgendeine Weise zu verarbeiten, damit sie nur noch eine Erinnerung bleiben, die einen nicht von innen zernagt. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir über die Wendungen des Krieges auf dem Laufenden und nicht unwissend bleiben. Denn Unwissenheit zerstört mehr als die schrecklichen Bilder im Internet. Ohne Wissen wird sich die Kultur nicht weiterentwickeln, und unwissend werden sowohl heutige als auch zukünftige Generationen bleiben.
 

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