Kunst
Darja Poplitova: Von Schmuck zu politischen Themen

Die Künstlerin sitzt neben ihrem Werk. © Ken Mürk

Die Schmuckdesignerin Darja Popolitova ist der Meinung, dass egal welche Sprache du sprichst, es wichtig ist, dass du in der Lage bist zu denken. Und ein guter Mensch zu sein.

Mari Peegel

Du bist in Sillamäe[1] aufgewachsen. Bietet Ida-Virumaa eine gute Ausgangsposition, um in der Kunst tätig zu werden?

Ich bin in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen und habe eine russische Schule besucht. Sillamäe war ein einsprachiges Umfeld. Erst als ich nach Tallinn zog, lernte ich den ersten Esten kennen. Damals dachte ich, dass mein Estnisch gut sei, aber als ich die Estnische Akademie der Künste besuchte und in den Vorlesungen von David Vseviov saß, verstand ich nur die Hälfte. Immer wenn ich von den Vorlesungen nach Hause kam, schrieb ich alle unbekannten Wörter auf und übersetzte sie mit einem Wörterbuch. Das war eine sehr effektive Methode des Sprachenlernens.
Zur Ausgangslage… In meinem Leben war es so, dass ich schon immer Künstlerin werden wollte. Der Mensch entspringt nicht der Leere, irgendeinem Vakuum: entscheidend ist, mit wem er interagiert, was er liest, mit wem er aufwächst. Der Mensch ist ein Konstrukt.
Meine Eltern sind Künstler*innen: Meine Mutter hat Fotografie und Film studiert, mein Vater studierte ebenfalls Kunst. Sie hatten Ausstellungen – ich bin praktisch in Ausstellungen aufgewachsen. Meine Eltern sagten, wir seien Geisteswissenschaftler*innen.
2008 habe ich die Schule in Sillamäe abgeschlossen. In der Schule war alles auf Russisch, mit der estnischen Literatur wurden wir erst ab der 9. Klasse bekannt gemacht. Ich war überhaupt nicht vorbereitet. Auch jetzt, wenn ich mit meinen Freunden das Brettspiel Alias ​​spiele, dann kenne ich bis auf Erki Noole niemanden aus dem estnischen Kulturleben. Im Moment denke ich nicht, dass das ein Problem ist. Es gab jedoch Zeiten, da habe ich mich geschämt. Ich war sogar so beschämt, dass ich zum Psychologen ging. Dabei kam ich zu dem Schluss, dass es immer wichtig ist, wie gut man als Mensch ist. Es gibt keinen Grund, sich für etwas zu schämen.

Wie hat dich das industrielle Erbe von Sillamäe beeinflusst?
 
Die postsowjetische Situation in Sillamäe hat mich ermutigt, Künstlerin zu werden: all die verlassenen Fabrikgebäude, in denen wir uns gesonnt haben, die Geisterstadt Viivikonna und die Luftschutzbunker. Auch der so malerische Strand. Darüber haben wir uns damals noch keine Gedanken gemacht: das Umfeld hat man während man aufwuchs nicht als wichtig empfunden. Jedoch schätze ich es jetzt. Ich glaube, es war eine so coole Kindheit.
Wir hatten einmal eine provokative Ausstellung im Kulturhaus Sillamäe. Es gab auch Journalist*innen, die sagten: „Was ist das für eine Kunst? Installationen von Unterwäsche, die zwischen den klassizistischen Säulen hängt?“ Daraufhin sagte meine Mutter frustriert: „Was für ein dummer Journalist. Erkennt nicht, dass es sich um avantgardistische Kunst handelt?!“
Zur Kunstschule in Narva ging ich seit der 10. Klasse. Dort war ich drei Jahre und habe keine einzige Stunde verpasst. Ich hatte große Probleme mit Mathe in der Schule, davon hatte ich so die Nase voll! In der Kunstschule wurde ich jedoch plötzlich so friedlich, dass ich schon bereits dann wusste, dass ich zur Estnischen Akademie der Künste gehen werde.
 
  • Die Künstlerin sitzt neben ihrem Werk. ©Ken Mürk
    Darja wusste bereits als Kind, dass sie einmal Künstlerin sein wird.
  • Eine Frau steht am Fenster. © Ken Mürk
    Darja Popolitova
  • Eine Frau im Hof der Altstadt. © Ken Mürk
    Darja Popolitova in der Altstadt von Tallinn, im Hof ihres Ateliers.


Du hast Schmuckdesign studiert: Wusstest du von Anfang an, dass du dich auch in dieser Kunstform mit konzeptionellen Themen auseinandersetzen kannst?

Schmuck hat mir gefallen, weil er körpernah und intim ist. Durch den Diskurs des Körpers können Botschaften durch den Schmuck in die Welt getragen werden. Es gab eine Reihe von Faktoren, die mich auf diesen Weg führten. Aktuell beschäftige ich mich zusätzlich auch mit Videomedien und Installationen – mein Tätigkeitsfeld ist breiter.
Angewandte Kunst im Allgemeinen bezieht sich nicht mehr so ​​sehr auf Konsumgüter, sondern auch auf sogenannte große Themen. Wenn ich mich früher als Schmuckdesignerin bezeichnet habe, sage ich jetzt, dass ich eine Künstlerin bin, die das Medium Schmuck verwendet.
Schmuck ist mehr als ein Dekorationsgegenstand. Schmuck ist ein Kanal, über den ich Probleme der Gesellschaft, Kultur, Subkultur oder Popkultur ansprechen kann. Er ist Teil der zeitgenössischen Kunst. Jede*r Künstler*in hat drei Wege: meisterhafte Fertigkeiten, Kreativität und Modernität. Künstler*innen mit sehr hohen Fertigkeiten verstehen möglicherweise Kreativität oder Modernität nicht. Ich glaube, dass alle drei Wege auf einem hohen Niveau sein müssen. Das ist die höhere Balancierkunst!
Moderner Schmuck ist ein Bereich in der Kunst, der ständig sich selbst, die Vergangenheit und die für ihn entstandene Situation widerspiegelt. Er reagiert sehr sensibel auf kulturelle und technologische Entwicklungen. Ich versuche dies zu bemerken und bringe meine Beobachtungen in verpackter Form zum Betrachter – dafür benutze ich Schmuck.

Du hast gerade die Ausstellung „die Liga des Taktes ist ein Stein, der den Blick kitzelt“ beendet. Konntest du deinem Publikum alles sagen, was du wolltest?

Ich bin mit mir selbst zufrieden, aber es könnte immer besser sein. Das vorherige Projekt bereitet das darauffolgende vor. Alles zahlt sich irgendwie aus: Die Schlussfolgerungen und Rückmeldungen aus der vorherigen Ausstellung werde ich im nächsten Projekt verwenden.
Auf der Ausstellung hatte ich einen Auftritt, bei dem ich die Hexe Seraphita war. Dazu habe ich vom Publikum Rückmeldungen erhalten: Wie sich herausstellte, hat jeder etwas anderes darin gesehen. Manche waren gelangweilt: schon wieder diese Digitalisierung! Aber gleichzeitig sagte jemand etwas sehr Überraschendes und Unerwartetes. Manche Rückmeldung war artikuliert, manche minimalistisch.
Jeder versteht die visuelle Metapher anders. Das, was ich sage, muss beim Betrachter nicht unverändert ankommen. Das ist die Besonderheit der bildenden Kunst: Ihre Bilder und Formen sind komplexer als die der Sprache.

Wie ist die Hexe Seraphita entstanden?

Die Idee ist letztes Jahr entstanden. Ich hatte eine Art politisches Thema (auf der Ausstellung „Magischer Verbreitungsbereich“) und wollte es nicht unter meinem eigenen Namen machen. Ich hätte niemanden von EKRE[2] gebrauchen können, die*der mich trollt. Nur für den Fall. Die Figur der Seraphita stammt aus Balzacs gleichnamigem Roman. Sie ist eine ambivalente Zwischenfigur: einmal Mann, einmal Frau. Mir gefiel die Unnahbarkeit, sie ist kein sicherer Mensch. In der Gesellschaft muss immer alles sicher sein. Nichts darf sich im Zwischenraum befinden: zum Beispiel russischsprachig, aber mit einem estnischen Pass. Das ist eine ambivalente und unangenehme Situation für die Gesellschaft: Geben wir ihnen einen grauen Pass!

Optisch ist Seraphita jedoch sehr feminin, wie eine Figur aus einem Make-up-Tutorial auf YouTube. Das entstand durch mein Interesse an der Popkultur, die ich schätze.

Wie bist du zu politischen Themen gekommen?

Mich interessiert die Reflexion von Schmuck: nicht das Objekt selbst, sondern wie es in einem digitalen Bild dargestellt wird und welches Potenzial dieses Bild hat. Ich habe darüber nachgedacht, mit welcher Art von Schmuck ich spielen könnte, um seine Körperlichkeit und Taktilität zu zeigen (haptische Wahrnehmung - M.P.). Ich sah mir Ringfibeln als Bestandteil des estnischen Volksschmuck an und überlegte, wie ich sie mithilfe der Kamera darstellen könnte? Ich habe ein Thema gewählt, das auf der symbolischen Vergangenheit dieses Schmucks basiert. Das taktile Handeln bekam nun einen Kontext und ermöglichte es mir, zum Beispiel über Integration zu sprechen. Durch so eine kleine Sache wie Schmuck konnte ich über große Themen sprechen.
Dasselbe gilt für die im Video verwendeten Drag-Queen-Gesichtsfilter. Diese Filter sind Schmuckstücke, mit denen wir unser Aussehen verändern können. Ich habe mich ihnen aus dem Blickwinkel derer genährt, die diesen Filter niemals auf ihr Gesicht setzen würden. Alle politischen Fragen entstanden durch das Nachdenken über Schmuck. Ich hatte kein direktes Ziel, politische Themen anzusprechen, aber als es dazu kam, dann – herzlich willkommen, sehr gern bitte!
Im Gegenteil dazu hatte ich auf der letzten Ausstellung „Die Liga des Taktes…“ sehr intime Themen. Obwohl auch solche Themen sehr politisch sein können, denn unsere Körper sind politisch. Natürlich sind meine Skizzen sehr ironisch und entspringen ausgedachten Situationen, aber ich versuche, sie so zu verpacken, dass sie den Betrachter zum Nachdenken anregen.


[1] Sillamäe ist eine Stadt im Nordosten der Republik Estland.
[2] Die Eesti Konservatiivne Rahvaerakond ist eine rechte Partei in der Republik Estland.

 

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