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Zurück nach Estland – wozu?

Ein junger Mann schaut ernst in die Kamera.  © Hõbe Ilus/erakogu

Dem Autor wurde schnell klar, dass das Leben im Ausland alles andere als ein rosaroter Traum ist. Nichtsdestotrotz arbeitete er tapfer daran, die Illusionen am Leben zu halten. Als er jedoch nach Hause zurückkehrte, wurde er überrascht und musste sich anpassen. 

Peeter Kormašov

Als ich Estland verließ, fragten mich Freunde und Bekannte, warum es gerade „dort" besser sei. Als ich zurückkam, fragten sie, was wirst du denn hier tun? In beiden Fällen hatte ich keine gute Antwort parat, weil ich keinem rationalen Plan folgte, sondern meinem Herzen. Ja, als ich 2012 Estland verließ, hatte ich eine Einladung für einen Masterstudiengang in Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin in der Tasche, hatte aber weder ein Stipendium noch einen aussichtsreichen Finanzplan.

Ich hatte vor, für ein paar Jahre auszureisen, kehrte allerdings erst nach sieben zurück – im Jahr 2019. Aus Versehen folgte eine ordentliche Odyssee: meine „Sieben Jahre in Tibet“. Da im Journalismus keine Auslandskorrespondierenden mehr gebraucht werden, wurde ich zunächst Bühnenarbeiter in Berlin und später Koch. Die FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) gab mir schließlich ein Stipendium, mit dem ich die Masterarbeit im Zusatzsemester fertigstellen konnte.

Irgendwann schien es, als hätte ich auch von Berlin genug und das Kochen, eine passende Tätigkeit für einen Reisenden, führte mich in die Schweiz, nach Norwegen, Australien und von dort auf eine längere Reise durch Neuseeland, Thailand und die USA. Es geschah alles ganz zufällig durch Bekannte. Ich habe dort gearbeitet, wo eine Stelle gerade frei wurde.

Es war die durch Zufall und Vergänglichkeit hervorgerufene Müdigkeit, die mich nach Hause brachte. Wer bin ich, wo bin ich, warum all das? Das ständige Reisen und der erzwungene Wohnungswechsel in Berlin schufen ein identitätsloses Gefühl.

Ich habe Estland nicht verlassen, weil es mir hier nicht gefallen hat. Estland war im Ausland lebend immer noch heimelig und liebenswert. Der ehemalige Präsident Toomas Hendrik Ilves hat gesagt, dass jeder Este ein Diplomat ist: So habe ich mit Genuss den Wald, die Sauna und die Wikinger fetischisiert, denn letztere gab es definitiv zumindest auf Saaremaa!

Die höhere Position eines Einheimischen

Als ich zurückkam, sah ich, dass es in der Heimat neben der Wildnis und Naturverbundenheit noch mehr gab. Das erste, was mich überraschte – obwohl ich Estland mindestens viermal im Jahr und vor allem im Sommer für längere Zeit besuchte – war ein spürbarer Anstieg des Lebensstandards. Ja, wirtschaftlich Benachteiligte werden immer noch wie überall in die Enge getrieben, aber gerade im Stadtbild von Tallinn und Tartu geben riesige Glasmonster, neue Wohnsiedlungen und in Planen gehüllte Baustellen den Ton an.

Obwohl sich auch das Bohème-Image von Berlin zu ändern begonnen hat, war die Rückkehr von dort nach Tallinn ein ordentlicher Schock. Okay, die Schweiz, Norwegen und Australien waren auch gruselig, aber ich blieb nur kurz dort – ich sammelte Geld und zog weiter. Im Vergleich zu Berlin ist es in Estland immer noch verrückt, außer Haus zu essen und zu trinken. Mir zitterte eine Weile die Hand vor Schreck, als ich die Rechnung sah.

Krister Kivi schrieb bereits vor zehn Jahren in Eesti Ekspress, dass mit einem Flugzeug nach Deutschland zu fliegen, um ein Geschäft wie Lidl aufzusuchen, nicht so sinnlos sei. Ich habe in Estland mindestens genauso so lange schon keine Klamotten gekauft. Die Corona-Krise hat natürlich alles auf den Kopf gestellt, und niemand weiß, welches Modell die neue Wirtschaft annehmen wird.

Bis dahin war ich es gewohnt – anscheinend verstärkt durch die Arbeit in der Küche, den Kontakt mit anderen Reisenden und dem Leben innerhalb der Gemeinschaft von Ausländern in Berlin – von verrückten Menschen umgeben zu sein. Doch plötzlich umgaben mich sehr anständige Menschen, die wirklich arbeiteten und nicht nur über ihre Träume redeten.

Einst war ich kein Einwanderer mehr, sondern meine Position war in die Höhe geschnellt. Einfach nur deshalb, weil ich in Estland geboren wurde. Ja, ich spreche auch Deutsch und Englisch, aber das ist nicht gleichbedeutend mit einem Gespräch in der Muttersprache. Die Einstellung dir gegenüber ist eine ganz andere. Jetzt habe ich ein zweites Jahr in Folge endlich einen Job in meinem Berufsfeld: Ich arbeite bei Eesti Päevaleht als Reporter für die Kulturredaktion.

Die Reichen sollten Vermögen abgeben

Natürlich vermisse ich in Estland normale Radwege und eine höflichere Verkehrskultur. Seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit gibt es wenig Stadtplanung, die Häuser wurden einfach höher gebaut und Autos sind im Straßenbild in der Überzahl. Aber das ist normal, denn in Estland werden noch Dinge gelernt, die in einigen west- oder nordeuropäischen Städten bereits elementar sind.

Ganz allgemein schmerzt mein Herz natürlich wegen der Umwelt und ich mache mir Sorgen, dass die Leute nicht mehr aus dem Internet in die Realität zurückkehren wollen. Ich möchte ein Gleichgewicht zwischen Waldbewirtschaftung und Naturschutz sehen. Ich befürchte auch, dass die Digitalisierung wie anderswo auf der Welt Persönlichkeitsstörungen vor allem bei jungen Menschen verschärfen wird.

Ich hoffe, dass neben dem postsowjetisch wirtschaftlichen Enthusiasmus die Seele des Volkes oder die Kultur mehr Unterstützung bekommt. Auch innerhalb dieses Bereiches muss diskutiert werden, wer wie viel Geld bekommt und warum, denn Ungleichheiten gibt es viele. Soziale Themen waren auch in Estland noch nie sehr sexy. Die einzige Hoffnung ist, dass diese an die Oberfläche treten, wenn die Wohlfahrtsgesellschaft kräftiger wird und sich besinnt, auch nur ein bisschen Vermögen abzugeben wie in den nordischen Ländern. Es wäre jedoch naiv zu hoffen, dass die Vermögensungleichheit verschwindet.

Mir persönlich hat das Leben im Ausland innere Sicherheit gegeben, mich ruhiger gemacht und mich gelehrt, über den estnischen Tellerrand hinaus zu schauen.

Andrei Ivanov schreibt in seinem neuesten auf Estnisch erschienenen Buch „Die Nacht in Saint-Cloud“ an der Stelle, wo Dostojewski jedem die Zwangsarbeit empfiehlt, dass er jedem das Leben im Ausland empfehle, weil es eine andere Perspektive auf die Dinge gibt. Ich empfehle das Gleiche.

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