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Cap­puc­ci­no zur Pizza? Hilfe! Estland aus Sicht zweier Italienerinnen

Pizza und Kaffee © Pexels

Wenn wir den Kontext um uns herum verstehen, bemerken wir nicht die Besonderheiten unseres eigenen Verhaltens. In diesem Artikel werden wir versuchen, unsere eigene Kultur von außen zu betrachten – durch die Augen zweier Italienerinnen.

Margarita Skripkina

Clifford Geertz betrachtete Kultur als ein Netzwerk von Werten und Bedeutungen, das von den Menschen gewoben wird. Tatsächlich geben wir selbst unserer Umgebung Kontext, ohne die Besonderheiten unseres eigenen Verhaltens zu bemerken. Mit anderen Worten: Wenn wir uns in unserer gewohnten Umgebung befinden, können wir sie nicht objektiv analysieren. Deshalb können wir, je weiter eine bestimmte Kultur von uns entfernt ist, ihre Besonderheiten umso besser studieren und bestimmte Merkmale herausarbeiten.

Seit sieben Monaten studiere ich italienische Sprache und Kultur an der Universität Tallinn. In dieser Zeit habe ich mindestens dreißig Italiener:innen kennengelernt. Einige von ihnen sind Austauschstudierende, andere Tourist:innen und einige sind Lehrer:innen. Um herauszufinden, wie Estland für diejenigen aussieht, die hierherkommen, um zu studieren oder zu arbeiten, habe ich zwei Praktikantinnen aus Italien, Silvia Tagliaferro und Laura Dalagata, befragt.

Laura, geboren in Forlì, kam im September 2022 nach Estland. Derzeit macht sie ihren Master im Bereich Linguistik an der Universität Mailand. Die Hauptgründe für ihren Aufenthalt in Tallinn waren ihr Wunsch, an einem Erasmus-Austauschprogramm teilzunehmen und ihr Russisch mit Muttersprachler:innen zu üben. Laura sagte ehrlich, dass sie vor ihrer Ankunft keine Erwartungen oder Vorstellungen von Estland hatte. Sie wusste nur, dass Estland ein kleines Land an der Ostsee mit skandinavischer Atmosphäre ist und dass sie auf die Kälte vorbereitet sein musste. Für sie diente das Fehlen bestimmter Vorstellungen und Erwartungen als Katalysator für das Studium der Kultur.
Silvia stammt von der Insel Elba und hat im Dezember 2022 ihren Masterabschluss in Linguistik in Genua abgeschlossen. Bevor sie nach Tallinn kam, war sie bereits mit der Stadt vertraut. Im Jahr 2019 nahm Silvia am Erasmus-Austauschprogramm teil und studierte ein Semester in Riga. Ein paar Mal besuchte sie als Touristin unsere Hauptstadt. Im Januar 2023 entschied sich Silvia, im Rahmen des gleichen Programms wieder in die baltischen Länder zurückzukehren, aber dieses Mal nach Tallinn. Jetzt absolviert Silvia ein Praktikum an der Universität Tallinn, wo sie mir und anderen Studierenden mit der italienischen Sprache hilft. Zudem arbeitet sie als Deutschlehrerin an der International School of Tallinn (IST). Im Gegensatz zu Laura hatte Silvia bereits eine gewisse Vorstellung von Estland, die bei ihrer Ankunft noch erweitert wurde.

Als Laura ankam, fiel ihr zuerst der Kundenservice in den Lebensmittelgeschäften auf. Als ihre Produkte an der Kasse gescannt wurden, sagte die Kassiererin kein einziges Wort zu ihr, was für Laura ein Kulturschock war. In Italien bilden die Menschen eine eng verbundene Gemeinschaft, in der es üblich ist, sogar mit Kassierer:innen zu plaudern, aber in Estland ist das anders. Laura bemerkte auch eine gewisse Schwermut in anderen Situationen. Zum Beispiel widerspricht die Art und Weise, wie wir in Estland einem Gesprächspartner zuhören, vollständig der Verhaltensweise, die in Italien üblich ist. Wie Laura bemerkte, fühlt sie sich manchmal unwohl, wenn sie mit Est:innen spricht, wenn ihr:e Gesprächspartner:in ihr gegenübersitzt und mit ernstem Gesicht vor sich hinbrummt, ohne sie zu unterbrechen, um eigene Emotionen auszudrücken. Es ist interessant, wie unterschiedlich unsere Vorstellungen von guten Zuhörer:innen im Vergleich zu den Italiener:innen sind. Silvia fiel auch unsere angebliche Verschlossenheit oder Steifheit im Gespräch auf. Für die Italienerin war es nie schwer, ein Gespräch zu beginnen, aber nachdem sie in unserer Gesellschaft auf die mangelnde Initiative gestoßen war, Dialoge fortzusetzen, hörte sie fast schon damit auf. Silvia und Laura haben bereits gelernt, dass in unserer Kultur der persönliche Raum und die Achtung der Grenzen anderer von großer Bedeutung sind. Gleichzeitig verstehen sie, wie unterschiedlich die Menschen sein können und dass nicht alle in unserer Kultur so verschlossen sind und keinen Kontakt aufnehmen wollen.

Die italienischen Frauen lobten die Kultur des Autofahrens in Estland besonders. Sie empfinden es als angenehm und etwas ungewohnt, dass hier Fußgänger:innen respektiert werden und auf den Straßen gegenseitige Rücksichtnahme herrscht. Ich war wiederum von einer Frage etwas schockiert, die Silvia mir stellte. Ich zitiere: „Warum tragt ihr hier alle Reflektoren?“

Wie viele wissen, hat das Essen einen besonderen Platz im Herzen der Italiener:innen. Ich würde sogar sagen, dass sie sehr wählerisch sind und in ihren Vorlieben manchmal sogar komisch wirken. So lud ich Silvia in ein italienisches Restaurant namens ILForno ein, nachdem ich andere Bekannte aus Italien nach ihrer Meinung zum Essen in diesem Lokal befragt hatte, um peinliche Situationen zu vermeiden. Als wir ankamen, bestellten wir beide eine Pizza und tranken dazu Wasser. Silvia lobte die Pizza und sagte, dass sie für Estland durchaus gut sei, mehr aber auch nicht. Wir unterhielten uns lange und ich beschloss, einen Kaffee zu trinken, um munter zu werden. Silvias Augen weiteten sich, als sie sah, dass mir ein Cappuccino serviert wurde. Was war los? Ich trank den Kaffee, während ich die Reste der Pizza aufaß. Dann sagte Silvia: „Das, was du gerade tust, ist sehr seltsam. Es ist, als würdest du Müsli zum Frühstück essen und Bier dazu trinken! Und Cappuccino würde nur morgens getrunken werden.“ Ich finde, allein diese Geschichte zeigt, wie ehrfürchtig die Italiener:innen mit ihren Essenstraditionen umgehen. Zudem finden sie die Menge an Snacks und Süßigkeiten in unseren Geschäften seltsam. Laut Silvia beanspruchen Süßigkeiten in ihren Geschäften nur ein Fach im Regal, während bei uns ganze Regalwände dafür vorgesehen sind. „Seid ihr hier alle Naschkatzen?“, fügte sie kichernd hinzu.
Beide Italienerinnen bemerkten den Komfort der Verwendung des digitalen Ausweises und der elektronischen Dienste, die den estnischen Bürger:innen zur Verfügung stehen. Für Fremde ist das jedoch eher ein Minus als ein Plus. Laura erzählte, wie schwierig es für sie war, einen Arzttermin zu vereinbaren, weil sie zuerst eine Überweisung von einer:einem Hausärzt:in benötigte, die:den sie hier natürlich nicht hatte. Die Suche nach einer:einem Hausärzt:in dauerte unglaublich lange, weil jeder von ihnen den digitalen Ausweis verlangte, den sie jedoch nicht hatte. Am Ende musste sie sich einen digitalen Ausweis für E-Residenten zulegen. Silvia hatte ein anderes Problem: Sie erhielt eine E-Mail auf Estnisch und verstand kein Wort. Sie bat ihre Kolleg:innen um Hilfe, die ihr antworteten, dass sie nur einige Arbeitspapiere elektronisch unterschreiben musste. Sie versuchte, es selbst zu tun, was nicht funktionierte. Also wandte sie sich an mich. Es stellte sich heraus, dass die E-Mail im DigiDoc-System war und ohne digitalen Ausweis nicht unterschrieben werden konnte. Silvia fragte mich, ob ich unterschreiben könne, aber nach einer enttäuschenden Antwort verfluchte sie buchstäblich alle unsere elektronischen Dienstleistungen und sagte, dass Estland ein separates System für temporär hier lebende Ausländer:innen benötigt.

Meine Freundinnen fanden es schwierig, aber sehr interessant, als Außenseiterinnen in einem fremden Land zu leben. Silvia und Laura haben es nicht eilig, in ihre Heimat zurückzukehren, und wenn sie jemals gehen, werden sie auf jeden Fall ab und an zurückkommen. Ich hoffe, dass ihr anhand der Erfahrungen der beiden Italienerinnen unsere eigene Kultur aus einer anderen Perspektive betrachten konntet.

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