Irgendwo im Nirgendwo
„Hier steht die Zeit seit Jahrtausenden still“

Still, surreal und einzigartig: der Lonar Lake im indischen Bundesstaat Maharashtra. © Chaitanya Marpakwar

Der Lonar Lake ist Indiens kosmisches Wunder und das bestgehütete Geheimnis des Subkontinents. Seit mehr als 50.000 Jahren hat sich hier nichts verändert.

Chaitanya Marpakwar

Tourist*innen aus aller Welt statten zwar den berühmten Höhlentempeln von Ajanta und Ellora – Weltkulturerbestätten Indiens – einen Besuch ab, der weniger bekannte Lonar Lake gehört hingegen nicht oft zu ihren Reisezielen. Er befindet sich abseits der touristischen Pfade, im Distrikt Buldhana des Bundesstaates Maharashtra, drei Autostunden von Aurangabad entfernt. Nach Angaben von Wissenschaftler*innen liegt der See im weltweit einzigen Krater, der durch einen Hochgeschwindigkeitsaufprall auf Basaltgestein entstanden ist. Das geschah, als ein Meteor mit einer Geschwindigkeit von etwa 90.000 Stundenkilometern auf die Erde stieß.

Heute erstreckt sich das Gebiet des Sees auf einer Fläche von 77,69 Hektar innerhalb des 3,66 Quadratkilometer großen Lonar‑Schutzgebietes.

Surrealer Anblick

Die meisten Besucher*innen übernachten in Aurangabad und begeben sich von dort aus die Straße entlang auf den Weg nach Lonar, obwohl der See ganz in der Nähe eines Resorts der Maharashtra Tourism Development Corporation (MTDC) und nur eine kurze Wanderung durch den Dschungel entfernt liegt. Schon nach einem 30‑minütigen Marsch durch den Dschungel ist der See erreicht. Auf dem Weg dorthin schützt das grüne Dach der Baumwipfel vor den brennenden Strahlen der Sommersonne auf dem Dekkan‑Plateau.

In der Nähe des Sees tauchen die ersten toten Baumstämme auf, bevor sie unter dem Blätterdach hervortreten und die beeindruckende Landschaft des Lonar Lake erblicken. Vom antiken Gomukh‑Tempel auf dem Hügel aus lässt sich der ovale See, der sich wie eine Untertasse in die Landschaft fügt, besonders gut sehen. Das grüne Wasser glitzert im Sonnenschein. Der Anblick ist surreal.

Stilles Zuhause für Blau-und Grünalgen

„Hier hat sich seit mehr als 50.000 Jahren nichts verändert. Viele Tourist*innen sind von dem Anblick fasziniert. Die Stämme der toten Bäume am Seeufer machen den Stillstand spürbar. Hier ruht die Zeit seit Jahrtausenden“, erzählt Suren Dhaman, ein Guide, der beim MTDC akkreditiert ist. „In dem Krater hat sich ein natürlicher See gebildet. Das salz- und natronhaltige Wasser bietet einen Lebensraum für Blau- und Grünalgen.“ Dhaman überprüft mit Zitrone, Lackmuspapier und einem kleinen Plastikbecher den Salz- und Natrongehalt des Seewassers.

Er erklärt, dass die Wasseroberfläche des Sees ruhig sei und es im See selbst zwar keine Wasserlebewesen gebe, die grüne Umgebung des Sees jedoch einen Lebensraum für Vögel und Reptilien biete. „Es gibt etwa 160 Vogel-, 40 Reptilien- und zahlreiche Säugetierarten. Früh am Morgen kann man Zugvögel wie Stelzenläufer, Rostgänse, Brandgänse, Krickenten, Reiher, Webervögel, Sittiche, Schneidervögel, Elstern und Rotkehlchen beobachten. Außerdem gibt es in der näheren Umgebung des Sees auch Warane und Hunderte von Pfauen, Chinkaras und Gazellen“, so Dhaman. Trotz der Artenvielfalt lassen sich wegen der hohen Bodenalkalinität keinerlei Anzeichen für Vegetation in dem Schlammgürtel rund um den See finden. Mit Ausnahme der toten Baumstämme und der Vögel, die sich Algen aus dem See picken, gibt es kein Anzeichen für Leben. Die Stille wird lediglich von Vogelgezwitscher und vereinzelten Besucher*innen durchbrochen.

Geologisch einzigartig

Am anderen Ende des Sees, an seinem versteppten Ufer nahe des Shankar‑Ganesha‑Tempels, wird deutlich, dass hier Science-Fiction auf Natur und Religion trifft und Chemie auf indische Mythologie. Wer noch nie das Gefühl hatte, am Ende der Welt zu sein, wird dies mit Sicherheit an diesem Ort empfinden. Die Stille wird plötzlich von einer Gruppe Affen gestört, die mit Plastikflaschen ausgestattet in den Bäumen nahe einer weiteren Tempelruine hockt und uns an die Zivilisation erinnert, die wir doch eigentlich zu Beginn unserer Wanderung zurückgelassen hatten.

Nach Angaben der nationalen Luft- und Raumfahrtbehörde (NASA) entstand der Lonar Lake vor 35.000 bis 50.000 Jahren durch den Aufprall eines Meteoriten. Im Jahre 1823 bezeichnete der britische Offizier C. J. Alexander den Ort als einzigartige geografische Sehenswürdigkeit. Im Jahr 1979 wurde er schließlich zum nationalen geologischen Denkmal erklärt. Dhaman berichtet, dass der See in alten Schriften erwähnt wird, darunter das Skanda Purana, das Padma Purana und das Aaina‑e‑Akbari oder die „Administration of Akbar“, eine Aufzeichnung aus dem 16. Jahrhundert, in der die Verwaltung des Mogulreichs unter dem Herrscher Akbar dokumentiert wird.

Im November 2020 wurde der Lonar Lake zum zweiten Ramsar‑Gebiet Maharashtras erklärt. Ramsar‑Gebiete sind Feuchtgebiete von internationaler Bedeutung. Die gleichnamige Konvention wurde 1971 in Ramsar (Iran) geschlossen und soll dem weltweiten Verlust von Feuchtgebieten Einhalt gebieten.

Touristisch erschließen

Noch ist der See kein touristischer Hotspot, doch die Regierung von Maharashtra entwickelt bereits Pläne, um ihn zu schützen und als Ausflugsziel zu erschließen. „Der Lonar‑Krater hat eine ganz eigene Bedeutung für den Tourismus und die geologische Forschung. Durch seinen Status als Ramsar‑Gebiet werden wir ihn in den kommenden Jahren besser schützen können. Ich bin froh, dass der Lonar‑Krater nun offiziell zum Ramsar-Gebiet erklärt wurde“, erklärte der Umwelt- und Tourismusminister von Maharashtra, Aaditya Thackeray, anlässlich der Ernennung des Lonar Lake zum Ramsar‑Gebiet. „Ich selbst habe den Ort 2004 zum ersten Mal besucht“, so der Minister. „Sein Anblick zieht alle in seinen Bann. Er hat eine besondere Bedeutung mit Blick auf die Artenvielfalt, den Tourismus und die Geologie.“

In der Erklärung wurde allerdings auch angemahnt, dass der See durch Abwässer und nicht nachhaltigen Tourismus gefährdet werde. Im Februar 2021 stattete Maharashtras Chief Minister Uddhav Thackeray Lonar einen Besuch ab und forderte die zuständigen Behörden auf, vor Ort touristische Einrichtungen zu entwickeln, ohne die lokale Artenvielfalt zu stören: „Unter Wissenschaftler*innen ist der Lonar Lake ein äußerst beliebtes Reiseziel und sie sind hier in großen Zahlen anzutreffen. Es muss dafür gesorgt werden, dass auch andere Besucher*innen diesen Ort für sich entdecken. Die Artenvielfalt in der Umgebung des Sees ist groß und das Gebiet muss auf geeignete Weise erschlossen werden“, so Thackeray.

Von Tempeln gesäumt

Auf unserem Rückweg machen wir Halt an dem am Kraterrand gelegenen Gomukh‑Tempel. Gomukh heißt Kuhmaul, und aus dem Maul eines Kuhkopfes ergießt sich ein nicht endender Strahl klaren Wassers. Pilger*innen, die den Tempel besuchen, waschen sich in diesem Wasserstrahl oder in einem daneben gelegenen Tempelteich oder Stufenbrunnen. Der interessanteste Tempel befindet sich im Stadtzentrum von Lonar und ist unbedingt einen Besuch wert. Der Daitya‑Sudan‑Tempel ist dem Gott Vishnu gewidmet, der den Dämon Lonasura tötete, nach dem auch die Stadt und der See benannt sind. Laut Dhaman besagt eine lokale Legende, dass sich Lonasura im Krater versteckt habe und das Wasser des Sees von seinem Blut dunkel gefärbt worden sei.

Der Daitya‑Sudan‑Tempel erinnert an den berühmten Khajuraho‑Tempel mit seinen Tierfiguren und erotischen Skulpturen von Liebespaaren beim Geschlechtsakt. Der Tempel hat drei Kammern. Wenn man das Allerheiligste, das Sanctum Sanctorum, im Inneren des Tempels betritt, erblickt man ein Bildnis des über Lonasura gebeugten Gottes Vishnu. Wie in vielen mythologischen Erzählungen siegt auch hier das Gute über das Böse.

Der Schritt aus dem Tempel fühlt sich an wie ein Schritt zurück in die Realität. Und obwohl die Besuchszahlen in Lonar seit der COVID‑19‑Pandemie rückläufig sind, zeigt sich Dhaman optimistisch. „Den Lonar Lake gibt es seit mehr als 50.000 Jahren. Im Vergleich dazu sind zwei Jahre nur ein Tropfen in den See. Wir hoffen, dass mehr Menschen diesen Ort besuchen, um dieses kosmische Wunder zu erleben. Eine kleine Veränderung im Universum hat sich hier unauslöschlich in die Erdoberfläche eingebrannt. Es gibt Orte, an denen hat die Stille etwas Aufregendes, Geheimnisvolles und Faszinierendes zugleich. Der Lunar Lake ist ein solcher Ort“, so Dhaman.


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