Meet the Author #2
Tomer Dotan-Dreyfus

Bei der zweiten Lesung im Rahmen unserer Reihe #Vorzeichen. Was, wen und wie wir lesen am 30.04.2024 war der deutsch-israelische Autor Tomer Dotan-Dreyfus zu Gast und sprach mit Moderatorin und Kuratorin Maha El Hissy über seinen Roman Birobidschan.

Das echte Birobidschan kommt übrigens in dem Buch gar nicht vor, bzw. hat der fiktive Ort kaum etwas mit der realen Stadt zu tun. Der Autor konzentrierte sich in seiner Recherche ganz auf die literarische Tradition der jiddischen nomadischen Literatur und Stetlgeschichten. Der fiktive Ort Birobidschan in seinem Buch ist eine rein künstlerische Schöpfung über eine jüdisch-sozialistische Utopie.

Auch sprachen die beiden über die Figur des unzuverlässigen Erzählers. Dotan-Dreyfus geht sogar weit, seinen Erzähler als unverantwortlich zu bezeichnen, denn es kommt schon mal vor, dass er auf dem Balkon Rauchen geht und dabei die Figuren seiner Handlung völlig aus dem Blick verliert. Manchmal lässt er die Leser*innen im Stich und ändert seine Absichten. Diese Unverantwortlichkeit kann als eine Art Gewalt gegenüber den Leser*innen betrachtet werden.

Im Buch gibt es keine explizite Darstellung von Antisemitismus. Dennoch gibt es unterirdische böse Strömungen, die beängstigend wirken. Den fiktionalen Charakteren im Buch wird nach und nach klar, dass sie in einem fiktionalen Werk gefangen sind. In der fiktionalen Welt kann alles passieren und das ist ziemlich beängstigend. Ein zentrales Gesprächsthema in Birobidschan ist die Frage, ob das Judentum eine Religion, eine Nation oder eine Ethnie ist. Auch das dieses Thema als offene Frage diskutiert wird, brachte dem Autor Kritik ein. 

Tomer Dotan-Dreyfus weist auf ein Gespräch zwischen dem säkularen Arzt von Birobidschan und dem Rabbiner aus dem noch kleineren Nebendorf hin. Sie diskutieren die Bedeutung von Schrift und Religion, insbesondere im Kontext von Literatur. Die Frage ist, ob eine offene Literatur, die Interpretationen zulässt und viele Ungewissheiten birgt, uns begrenzt oder befreit, uns in unseren Denkweisen einschränkt oder vielmehr erweitert?