Buchkritik #6
Charlott liest "Gesammeltes Schweigen"

Diesmal hat Charlott eine Neuausgabe einer klassischen Kurzgeschichte von Heinrich Böll mit einer Annäherung von Sharon Dodua Otoo. Gesammeltes Schweigen zeigt, wie eine spielerische, kreative, kritische und immer fragende Auseinandersetzung mit einem Autor des (klassischen Schul-)Kanons aussehen kann.

Zu sehen ist das Portrait einer jungen weißen Frau, die eine Sonnenbrille und Kopfhörer trägt. Im Hintergrund sind Bäume und ein Weg zu erkennen. Oben rechts in der Ecke ist ein halbtransparentes Hashtag-Zeichen und darüber in weiß das Wort Vorzeichen zu sehen. Unten rechts in der Ecke befindet sich das Logo des Goethe-Instituts.  © Charlott Schönwetter Im Jahr 1955 erschien erstmals Heinrich Bölls Kurzgeschichte Doktor Murkes gesammeltes Schweigen. In einer Radioanstalt treffen Bur-Malottke, ein Intellektueller, der 1945 zum Katholizismus konvertierte, und Murke, der im Schnitt arbeitet und eine Sammlung an Schnipseln mit Schweigen anlegt, aufeinander. Bur-Malottke fordert vom Intendanten, dass aus einer von ihm eingesprochenen Rede, das Wort „Gott“ mit „jenes höhere Wesen, das wir verehren" ersetzt wird. Diese undankbare und absurde Aufgabe wird Murke zugeteilt. Die Kurzgeschichte befasst sich auf satirische Art und Weise mit Kontinuitäten zwischen NS-Ideologie und der Kultur der Nachkriegszeit.

Das Buch Gesammeltes Schweigen ist nicht ausschließlich eine neue Ausgabe dieser Geschichte, sondern eröffnet mit der doppelten Autor*innenschaft des Buchs (Heinrich Böll/ Sharon Dodua Otoo) einen Dialog. Im ersten Teil des Buchs ist Bölls Kurzgeschichte gedruckt – mit einem spannenden, kreativen Einsatz der Buchgestaltung. So tauchen unter anderem die „Schnipsel“ als wiederkehrendes graphisches Element auf. Im zweiten Teil nähert sich Otoo der Kurzgeschichte und Böll als Autor an. Diese Auseinandersetzung ist kein klassisches Essay, welches man häufig zur Kontextualisierung von als Klassikern verstandenen Werken in Neuauflagen findet, sondern eine Annährung, Kontextualisierung und Diskussion in verschiedenen Ansätzen. In diesem Teil finden sich Nachrichtenaustausche, Briefanfänge an Böll gerichtet (alle durchgestrichen), Tagebucheinträge, eine Antwort auf einen Hörer*innenbrief aus der Kurzgeschichte und vielfältige Zitate.

Dabei wirft Otoo Fragen auf zu Schweigen und Auslassungen, der Rolle von Schrifsteller*innen und Möglichkeiten diskriminierungsarmer Sprache. Wie kann Sprache gewaltvoll werden? Wie kann auch ein Sprechen zum (Ver)Schweigen führen (in dem z.B. bestimmte Erfahrungen nicht benannt werden)? Gesammeltes Schweigen zeigt, wie eine spielerische, kreative, kritische und immer fragende Auseinandersetzung mit einem Autor des (klassischen Schul-)Kanons aussehen kann. Böll wird hier nicht auf ein Podest gestellt (auch wenn Otoo deutlich macht, dass sein Werk ihr viel bedeutet). Stattdessen wird durch die vielförmige Auseinandersetzung deutlich, was sein Werk noch heute für wichtige Frage aufwerfen kann, aber auch welche möglichen Leerstellen es gibt. Otoo teilt nicht nur ihre Gedanken zur Kurzgeschichte, sondern bettet diese in weitere Diskussionen ein. Sie fügt auch wichtige Perspektiven hinzu, etwa wenn sie im Antwortbrief an die fiktive Hörerin auf unsägliche Bundestagsdebatten der 1950er über Schwarze „Besatzungskinder“ hinweist oder über die leidlichen Diskussionen über die Verwendung des N*-Worts schreibt (und gleichzeitig betont, dass sie über diese gar nicht schreiben möchte).

Der Geschichte von Böll und einigen Zitaten aus seinen Reden stehen Zitate von Autor*innen wie Audre Lorde, May Ayim, Olivia Wenzel, Philipp Khabo Köpsell oder RANDom WoMANtis gegenüber, die alle auf ihre Art und Weise über Sprache, Schweigen oder Wortfindungen nachdenken. Mit dieser sehr gezielten Wahl Schwarzer Autor*innen zeigt Otoo wie bereichernd eine Vielzahl an Stimmen und Perspektiven ist. Böll wurde natürlich auch in der Vergangenheit bereits in Beziehung zu anderen Autor*innen gesetzt, z.B. wenn er im Kontext der Gruppe 47 gelesen wird. In Gesammeltes Schweigen aber kreiert Otoo durch ihre Zitatauswahl und Annäherung ein ganz neues Bezugsnetzwerk, in dem Böll noch einmal neu gelesen werden kann.