Radio in Brasilien Wichtiger Teil der nationalen Identität

Radio in Brasilien
Radio in Brasilien | © Kaysha / Unsplash

Seit 100 Jahren prägt das Radio den Alltag in Brasilien. Das Medium hat zur Entstehung wichtiger Merkmale der kulturellen Identität des Landes beigetragen: der Música Popular Brasileira, der Radio-Novelas und der brasilianischen Leidenschaft für den Fußball. Doch durch den Mangel an öffentlichen Maßnahmen zur Erhaltung der Radioarchive ist das akustische Erbe bedroht. Juliana Vaz sprach mit Marcelo Kischinhevsky, Professor für Kommunikation und Leiter des Zentrums für Radio und Fernsehen der Universidade Federal do Rio de Janeiro.

Marcelo Kischinhevsky, die erste „offizielle“ Radiosendung Brasiliens stammt aus dem Jahr 1922. Wir wissen heute aber auch von früheren Sendeversuchen. Warum wird daran so wenig erinnert?

Tatsächlich gab es 1922 in Rio de Janeiro eine Übertragung der Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Brasiliens, was zu der mythischen Erzählung geführt hat, dass dies die erste offizielle Radiosendung Brasiliens gewesen sei. In Wirklichkeit gehen die ersten Versuche der Sprachübertragung auf die Zeit vor dem Radio zurück.

Seit 1910 gab es öffentliche Vorführungen dieser Technologie in Brasilien durch die Marconi Company (ein britisches Telekommunikationsunternehmen) oder Telefunken (Gesellschaft für drahtlose Telegraphie). Als dann 1922 Westinghouse kam, fiel diese Vorführung mit der Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit zusammen und der Präsident hielt eine Rede. Daraus ist die Erzählung entstanden, es sei der Beginn des Rundfunks durch ein amerikanisches Unternehmen gewesen. Aber das stimmt nicht. Schon im Jahr 1919 hat zum Beispiel Rádio Clube de Pernambuco öffentliche Radioübertragungen gemacht, wie in der damaligen Presse dokumentiert ist. Heute ist historisch belegt, dass es lange Zeit falsche Darstellungen über diese Anfänge des Radios gab.

Am Anfang hatte das Radio vor allem einen Bildungsauftrag. Die kommerzielle Ausrichtung kam erst später, nicht wahr?

In den 1910er-Jahren entstanden die ersten Sender in den Vereinigten Staaten, Europa und in Brasilien im Umfeld von Universitäten, Technikliebhaber*innen und Intellektuellen mit dem Ziel, das Radio als Bildungsinstrument zu nutzen. Der Bildungsbegriff war damals eher aufklärerisch: Die Hochkultur sollte einer Bevölkerung nahegebracht werden, die weder lesen noch schreiben konnte. Erst gegen Ende der 1920er-Jahre und Anfang der 1930er-Jahre verbreitete sich das Radio und es wurde zum Geschäft. Erst seit 1932 gibt es in Brasilien gesetzliche Richtlinien für Werbung im Radio.

Radio hat das kulturelle Zusammenleben der Menschen entscheidend mitgeprägt.

Dank Radio bekam also die analphabetische Bevölkerung Zugang zu Informationen und Nachrichten?

Ja, das stimmt. In den 1920er-Jahren schlug Roquete Pinto, ein Sprecher von Rádio Sociedade in Rio de Janeiro, die Zeitung auf und las Artikel vor, die er für wichtig hielt. „Viele Leute können nicht lesen, weil sie sehbehindert oder gar blind sind“, sagt er. Dieses Informationsverständnis bestand von Anfang an und verstärkte sich mit der Industrialisierung des Landes, die sich vor allem in den 1940er-Jahren beschleunigte. Die Bevölkerung, die vom Land in die Städte zog, erhielt mit dem Radio einen Kompass, einen Begleiter, eine Möglichkeit, sich im städtischen Raum zu verorten. Radio hat das kulturelle Zusammenleben der Menschen entscheidend mitgeprägt und tut dies bis heute. Laut Erhebungen des brasilianischen statistischen Instituts IBGE hören zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung Radio. Es wird unterschätzt, denn es ist ein unsichtbares, fantastisches, tragbares Kommunikationsmittel, das überall im Alltag der Menschen zu finden ist, als batteriebetriebenes Radio, im Handy, im Internet oder auf dem Computer.

Es ist oft die Rede vom Sterben des Radios, aber es erfindet sich immer wieder neu und überlebt – in jüngster Zeit zum Beispiel in Form von Podcasts. Kann man sie als eine Form des Radios bezeichnen?

Das ist eine lange Diskussion, die seit 2005 geführt wird. Zuerst hieß es, Podcasts seien kein Radio, weil sie nicht in Echtzeit senden, dezentral produziert werden und keine radiophonen Inhalte bieten, sondern Vorträge oder Vorlesungen. Aber das hat aus meiner Sicht wenig Bestand. Wie war denn Radio in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts? Es waren Vorträge, Sprachunterricht, Gymnastikstunden. Solche Formate gab es bis in die 1980er-Jahre. In den Anfangsjahren des Radios gab es alle möglichen Inhalte, und so war es auch bei den Podcasts.

Heute verstehe ich Podcast als eine Form von Radio, als eine Möglichkeit, Radio on demand zu machen. Es gibt eine klare Affinität zwischen der Sprache des Podcasts und der des Radios. Es gibt eine deutliche Korrelation zwischen den in Brasilien sehr populären narrativen Podcasts wie O caso Evandro oder Praia dos Ossos und wichtigen Radiodokumentationen der 1970er- und 1980er-Jahre. Podcasts sind Hörbeiträge mit etwas anderen Eigenschaften – nicht ganz dasselbe, aber den Radiosendungen sehr ähnlich.

2019 hörten nur 13 Prozent der Internetnutzer*innen in Brasilien Podcasts. 2022 stieg diese Zahl sprunghaft auf 31 Prozent. Setzt sich dieser Trend fort?

Während der Pandemie ging man davon aus, dass die Podcasts in den Hintergrund treten würden, da sie vor allem von Menschen gehört wurden, die lange Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Auto zurücklegen mussten. Wenn diese Fahrten durch die Isolation zu Hause nun wegfielen, dachte man, dass dies dem Medium Podcast schaden würde, aber das Gegenteil war der Fall. Das Format erlebte einen regelrechten Boom und die Produktion stieg enorm an. Laut VoxNest, einem auf Podcast-Lösungen spezialisierten Unternehmen, war Brasilien das Land, in dem der Anstieg der Podcasts am höchsten zu verzeichnen war. Während der schlimmsten Zeit haben viele Brasilianer*innen Podcasts für sich entdeckt. Ich glaube, dass dieser Trend anhält und der Podcastmarkt in Brasilien noch viel Wachstumspotenzial hat.

Ich habe die Nutzung von Radio und Podcasts durch die Präsidentschaftskandidaten 2022 untersucht. Die Untersuchungen im Rahmen der Wahlen waren sehr wichtig und aussagekräftig: Über populäre Podcasts wie Podpah, Flow oder Mano a Mano kann man mit Millionen von Menschen sprechen. Und es gibt Raum für ausführliche Interviews, die im traditionellen Rundfunk nie möglich waren.

Rádio Nacional berichtete über die Fußballclubs in Rio.

Das Radio spielte auch eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Fußballs, der nationalen Leidenschaft Brasiliens?

Ja, in Brasilien wurden die Spiele hauptsächlich über Rádio Nacional übertragen. Das war dominant zur Zeit, als es noch keine Reichweitenbeschränkung auf der Mittelwelle gab. In seiner Blütezeit erreichte Rádio Nacional 40 Prozent des brasilianischen Territoriums. Heute sind Mittelwellensender auf einen Umkreis von 400 Kilometern beschränkt. Damals war Rádio Nacional so mächtig, dass es noch heute im Nordosten viele Fans von Fußballvereinen aus Rio de Janeiro gibt. Und warum ist das so? Weil Rádio Nacional früher im Alltag der Menschen präsent war und dort über die Fußballclubs aus Rio berichtet wurde.

Sie beklagen den Mangel an öffentlichen Maßnahmen zur Erhaltung des Radioerbes in Brasiliens. Wie geht das Land mit seinem akustischen Erbe um?

Es gibt bei uns keine öffentlichen Maßnahmen zur Erhaltung dieses Erbes und das ist eine Tragödie. Jeder Radiosender in Brasilien ist verpflichtet, die Aufzeichnungen seines laufenden Programms 30 Tage lang aufzubewahren. Und was geschieht? Diese Mindestvorschrift wird zu einer Obergrenze. Nach 30 Tagen wird alles weggeworfen. In den 1990er-Jahren hat ein großer privater Radiosender in Rio de Janeiro seinen gesamten Bestand an Schallplatten weggeworfen. Sie können sich vorstellen, was alles bei einer so drastischen Maßnahme eines Geschäftsführers, der nicht einen Moment darüber nachdachte, was er da tat, verloren ging. Wir haben nur wenige Archive, ein paar Einzelinitiativen, aber es gibt keine politischen Maßnahmen zur historischen Archivierung. Es gibt nicht einmal Regeln für den Archivierungsprozess: Welches Format wird in zehn Jahren noch lesbar sein? Es müsste eine Übereinkunft darüber geben, wie die Bestände archiviert, digitalisiert und bewahrt werden können.