Benjamin Steininger Kurven und Beton

Kurven und Beton
Kurven und Beton | © Jeremy Bishop / Unsplash

Hast Du Dir auf der Autobahn eigentlich mal Gedanken gemacht über die Chemie von Kies, über die Mechanik der Erden? Über die Kunst der Kurven? Noch nicht? Dann wird’s höchste Zeit. Denn wir wissen alle viel zu wenig über die Autobahn. Die Autobahn aber weiß sehr viel über uns. Das wird sich jetzt ändern. Viel Spaß mit unserem deep dive in die Geheimnisse der Autobahn, ihrer Kurven und Beläge, mit Benjamin Steininger.

Es gibt Dinge, die sind zu selbstverständlich, als dass man versteht, dass sie eigentlich zu kompliziert sind, um sie zu verstehen. Die Autobahn ist so ein „Ding.“ Und dabei geht es gar nicht nur um die offensichtlich ökologische oder die politisch-historische Belastung. Die Nazis haben die „Pyramiden des Dritten Reichs“ – mit Rainer Stommers mittlerweile selbst historischem Buchtitel – zwar bekanntermaßen nicht erfunden, aber sie haben sie doch maßgeblich gebaut. Und mit ihren Plänen, die Autobahn zur expliziten Inszenierung von „Landschaft“ einzusetzen, haben sie nicht nur Verkehrsentscheidungen, sondern auch Erfahrungsräume über Jahrzehnte festgelegt. Dies ist aber nur Teil einer Komplikation, die auch in ihren unauffälligeren Aspekten Wirkung hat.

Autobahn, wer bist Du?

Tatsächlich ist das in Deutschland tausende von Kilometern lange, und in vielen anderen Ländern noch viel längerere Bauwerk auch ganz praktisch eines der kompliziertesten „Dinge,“ mit denen man im Alltag in Kontakt gerät. Und schon damit beginnt die Schwierigkeit. Denn „in Kontakt“ gerät man ja gerade nicht mit ihr, wenn man mit 140 Stundenkilometern über sie fährt, und selbst im Stau darf man nicht aussteigen. Und es geht weiter: Denn wo genau beginnt eigentlich die „Autobahn“, wo hört sie auf? Woraus besteht sie? Ist es nur der meist vier oder sechsspurige Baukörper aus Asphalt oder Beton, den man in Deutschland an seinen blau-weißen Hinweisschildern erkennt? Oder gehören auch ebenfalls vierspurige, aus eher bürokratischen statt technischen Gründen gelb-schwarz beschilderte Bundesstraßen dazu, sowie dann auch die Zubringerstraßen und in gewissem Sinn sogar der geteerte Parkplatz?

Und muss man nicht auch noch die Tankstellen, dann auch die Raffinerien, die Öltanker und die Bohrplattformen mitdenken, wenn man „Autobahn“ sagt? Und was ist mit den Navigationsgeräten, den Routenplanern, Satelliten, Rechenzentren, die einem genau sagen, wo gerade Stau und welche Umleitung die beste ist?

Nichts würde funktionieren ohne die Autobahn.

Die Autobahn ist einer der zentralen, technischen Prozessoren des modernen Lebens. Tatsächlich würde kein Supermarkt, kein Industriebetrieb, keine Stadt und auch kein Landstrich in Ländern wie Deutschland funktionieren, ohne dass rund um die Uhr Personen und Güter über die Autobahn fahren oder fahren können. Und die Autobahn selbst funktioniert nicht ohne ein riesiges, darunter, darüber, dahinter liegendes Netzwerk an kleinsten und größten Dingen, an sehr verschieden komplizierten Techniken, die man alle zum System der Autobahn dazuzählen muss, wenn man den zentralen Prozessor verstehen und beschreiben will.

Scherben aus Asphalt

Schon das vermeintlich einfachste, fast banale Objekt, die Fahrbahn in der Landschaft, das Stück Beton oder Asphalt neben schmutzigem, verdorrtem Gras, kann man als erstaunlich komplexes Ding lesen, wenn man einerseits nahe genug herangeht und andererseits das Ding in seinen Netzwerken begreift. Wenn die klassische Archäologie aus einzelnen Scherben ganze Handelsnetze und Kulturen rekonstruieren kann, weil eine Glasur an einem bestimmten Ort auf andere Orte und Techniken verweist, wenn die Paläo-Anthropologie aus den Mineralien in Knochen oder Zähnen europäische Migrationsbewegungen und soziale Gefüge ermitteln kann, was zeigen dann die kilometerlangen „Scherben“ aus Asphalt und Beton? Welche Techniken und Wissenschaften, aber auch, welche Geografien, Politiken, ja vielleicht sogar Weltbilder könnten hier ermittelt werden?

Die Kunst der Kurven

Klar ist, eine Fahrbahn steht nicht für sich. Sie ist nur ein Bestandteil einer aus mindestens zwei technischen Komponenten, aus Rad und Fahrweg, zusammengesetzten „Maschine“, wie man in der Technik- und Medientheorie sagt. Bei der Eisenbahn ist der Fall klar, Stahlräder und Stahlschienen bilden ein technisch geschlossenes Gefüge. Das System der Autobahn ist hingegen nur geschlossen, wenn niemand über den Fahrbahnrand hinaussteuert. Gummireifen und Betonstraße passen zwar als technische Komponenten genau so zusammen, dass man sich mit Höchstgeschwindigkeit darauf fortbewegen kann, aber nur, wenn die Person am Steuer ebenfalls als Teil der Maschine funktioniert.

Künftige Archäolog*innen werden aus den Radien der Kurven und Bahnneigungen ermitteln können, dass hier kein breiter Fußweg, sondern fast eine Art Tiefflugbahn, ein Bauwerk für übermenschliche, maschinelle Geschwindigkeiten geplant war, und welche Energien Individuen hier verpulvern konnten. Ebenfalls kann man an der Gestalt der Kurven ablesen, dass in die Planung der Strecken auch das Sehen und die Reaktionszeit von Menschen am Steuer eingebaut worden sein muss.  

Das Ziel ist Geschmeidigkeit.

Schon seit den 1930er-Jahren werden Autobahnkurven mit sogenannten Übergangssbögen geplant. Eine Strecke wird nicht nur aus Geraden und möglichst großen Kreisstücken zusammengesetzt. Sondern am Übergang einer Gerade auf einen bestimmten Kreisradius wird eine mathematisch und zeichentechnisch sehr viel anspruchsvollere Kurve, eine so genannte „Klothoide“, dazwischen gelegt. Ziel ist, die am Lenkrad beim Einschlagen in die Kurve tatsächlich ausgeführte Bewegung von „gerade“ auf einen bestimmten Einschlagswinkel geschmeidig in die Geometrie der Straße einzubauen.

Das Asphalt- oder Betonbauwerk dokumentiert damit über seine bloße Lage im Gelände sowohl bestimmte mathematische Kenntnisse, wie auch eine Art Wahrnehmungstheorie automobiler, selbst gesteuerter Bewegung. Tatsächlich wird der Fahrbahnverlauf zum Mittel technischer Kontrolle. Aber weil das Korsett der selbstgesteuerten Bewegung exakt folgt, spürt man es nicht.

Das Geheimnis des Betons

Von anderen Wissensbeständen handelt die Materialität der Straße. Beton und Asphalt sind keineswegs natürliche oder leicht zu erzeugende Stoffe. In ihre Produktion geht kaum weniger industrielle Komplexität ein, wie in die Erzeugung der sehr viel offensichtlicheren Ikonen der Motorisierung, der Automobile selbst. Über die aus allen Teilen der Erdkruste importierten Rohstoffe und Energieträger, die zur Erzeugung von Asphalt und Beton notwendig sind, ist sowohl räumlich geografisch, wie zeitlich geohistorisch ein bizarres, planetarisches Netzwerk präsent, wo auch immer Beton oder Asphalt in einer Wiese oder Waldschneise liegen. Schon in die allerersten Zementprodukte des 19. Jahrhunderts sind die nur mit fossiler Kohle-Energie möglichen, hohen Temperaturen der Industrialisierung gewissermaßen eingebaut.

Willkommen in der Petromoderne

In der „Petromoderne“ – dem seit 1900 einsetzenden Abschnitt der Moderne, in dem Öl und später Erdgas alle bestehenden Dynamiken nochmal auf eine neue Umflaufbahn heben – mit der Verfügbarkeit also nochmals hochwertigerer Energieträger, werden das Erdölprodukt Asphalt und der ebenfalls mit fossiler Energie erzeugte Beton zu massenhaft und günstig erhältlichen Baustoffen.

Obacht, nur für Kenner: Kies

Aber nicht nur stumpfe, fossile Energie ist in Stoffen wie Beton präsent. Zement ist wissenshistorisch eines der frühesten Anwendungsgebiete der High-Tech-Methoden der Elektronenmikroskopie. Bis heute ist der einerseits fast achtlos eingesetzte Allerweltsstoff gleichzeitig auch Gegenstand komplexer Forschung im Grenzbereich von Chemie, Mineralogie, Physik und Ingenieurswesen. Die Materialität von Kies und Zement, von in die Landschaft verbauten Stoffen, ist erstaunlich schwer zu verstehen. Und man muss viel über die Ränder der Technik, über die Chemie von Kies, über die Mechanik der Erden und Grundwässer verstehen, wenn man eine Fahrbahn bauen will, die als sicheres Gegenstück für permanent TÜV- und crashtestgeprüfte Kraftfahrzeuge bauen will.

Erst aus den Fehlern von in die Landschaft gelegten Straßenbauwerken entsteht in den 1920er-Jahren in den USA das Fach der Bodenmechnik. Und bis heute lernen Betoningenieure unfreiwillig viel über ihr Material an im Sommer aufgeplatzten, im Winter eingefrorenen oder wegen falscher Kiesel aus dem falschen Alpental aufgequollenen Fahrbahnen. Nur weil Technik das störrische Material der „Landschaft“ also präzise mitdenkt, funktioniert sie.

Eine vom Prinzip automobiler Bewegung her geplante Fahrbahn muss sich also an zwei sehr unterschiedlichen Polen orientieren. Sie gleitet über Böden hinweg und sie „ruckelt“ auch in den Kurven nicht auf dem „Bildschirm“ der Windschutzscheibe.

Dass neue Materialitäten nicht nur Techniken und Infrastrukturen, sondern auch neues Wissen, neue Wahrnehmungen und Subjektivitäten erzeugt haben, für Individuen wie für Gesellschaften, ist für die Petromoderne typisch. Fossil-moderne Kraftstoffe und Baustoffe haben auf diese Weise mehr als materielle, sie haben auch abstrakte Wirkung. Dies gilt auch für die Autobahn. Dass die Fahrbahn als technische Schnittstelle von Böden, Fahrzeugen und Individuen, von Landschaften und Lenkbewegungen sehr viel „weiß“ über beide Seiten, und dass wir sehr wenig darüber wissen, weil wir gerade keinen Kontakt zur Fahrbahn haben, wenn wir als Maschinenteile über sie hinwegrasen, das sollte zu denken geben.