Fotoreportage Tokyos Autobahnnetz
Die Stadtautobahn von Tokyo war der erste Metropolitan Expressway weltweit. Heute bildet sie ein dichtes Netz aus Hochstraßen, das die Metropolregion mit ihren 40 Millionen Einwohnern durchzieht. Yu Minobe zeigt euch in einer Text-Bild-Dokumentation aktuelle Eindrücke dieses Straßennetzes und erklärt dessen Geschichte.
Drei Viertel von Tokyos insgesamt 327 Kilometer langem Autobahnkomplex verlaufen erhöht und schlängeln sich, gestützt von tonnenschweren Betonsäulen, malerisch zwischen Wohnhäusern, Wolkenkratzern und Fabriken hindurch – wie Wasseradern, die sich durch den Erdboden winden.Die Planungen für eine Hauptstadt-Autobahn in Tokyo reichen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Schon zu Beginn der Modernisierung und Verwestlichung Japans hatte man die Notwendigkeit einer solchen Verkehrsinfrastruktur für die rapide wachsende Stadt erkannt. In den späten 1950er-Jahren, knapp 15 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde der Bau einer Autobahn schließlich unumgänglich. Die Motorisierung und die zunehmende Bevölkerungsdichte hatten massive Verkehrsprobleme auf den Straßen verursacht. Die Zusage für die Olympischen Spiele 1964 gab dem Projekt den entscheidenden Schub, und so begannen die Bauarbeiten am weltweit ersten „Metropolitan Expressway“. Dieser sollte nicht nur den Verkehr in der Hauptstadt verbessern, sondern auch als Knotenpunkt für ein landesweites Autobahnnetzwerk dienen, das die Hauptstadt mit allen Regionen des Landes wirtschaftlich verband.
Flüsse und Kanäle
Der Bau der Autobahn musste zügig vonstattengehen – Japan hatte nur fünf Jahre Zeit, um der Weltöffentlichkeit den Wiederaufbau nach dem Krieg und den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zu präsentieren. Die erste und größte Hürde beim Autobahnbau war jedoch der Landerwerb, der oft mit Protesten und jahrelangen Verhandlungen verbunden war. Um dies zu erleichtern, griff der Staat auf die vorhandenen „Adern“ der Stadt zurück – Flüsse und Kanäle. Diese einstigen Lebensadern der Wasserstadt im Delta am Ende der Kanto-Ebene wurden schnell zubetoniert, um Platz für die neuen Straßen zu schaffen. Durch das rasante Bevölkerungswachstum war die Abwasserinfrastruktur der Stadt ohnehin bereits überlastet, und der starke Geruch der Gewässer hatte die Bevölkerung schon vor dem Bau von diesen ferngehalten. So gelang es dem Staat, ohne großen Widerstand die Flüsse zu überdecken, den Flussboden trocken zu legen oder über bestehende Flüsse erhöhte Straßen zu bauen.Der Metropolitan Expressway war auch Ausdruck des Zeitgeistes: der Traum vom unendlichen Wachstum, immer höher, schneller und weiter. Man schaute nur nach vorne und nach oben, während man die dunkle Vergangenheit, die wie Erdschichten und Grundwasser unter der Stadt lag, zu ignorieren versuchte. Die Kriegsverbrechen Japans, die Kolonisierung der Nachbarländer im Namen der Befreiung oder die Tatsache, dass nach dem Krieg Kriegsverbrecher in den höchsten Rängen der Regierung geduldet wurden – all das wurde unter die Erde verbannt, als wäre es nicht da.
Eine strahlende Zukunft
Das neue Japan sollte wirtschaftlich aufblühen und die Menschheit in eine strahlende Zukunft führen. Es war die Ära des Fortschritts, der Technologie. Und so wuchs die Stadt, und mit ihr auch der Autobahnkomplex, der in den 1990er-Jahren mit einem täglichen Verkehrsaufkommen von rekordverdächtigen 1,1 Millionen Autos einen Höhepunkt erreichte.Die Olympischen Spiele 2020 – die pandemiebedingt verschoben wurden und unter heftigen Protesten ohne Publikum stattfanden – sollten eine Neuauflage der Spiele von 1964 werden, die für Japan eine neue Ära einläuteten. Gleichzeitig sollten sie einen Wendepunkt hin zu einer nachhaltigeren Wasserstadt markieren. So wurden die Stadtteile entlang der Bucht massiv gentrifiziert und mit Wohnungen und Einkaufszentren bebaut. Ob sich diese Stadtentwicklung als nachhaltig erweisen wird, bleibt abzuwarten.
Ein Trugschluss
Was jedoch bereits sicher ist: Der Traum vom unendlichen Wachstum war ein Trugschluss. Spätestens im Jahr 2011, als die Havarie der Atomkraftwerke in der Küstenregion von Fukushima, die ausschließlich Strom für Tokyo produzierten, Heimat und Lebensgrundlage von zehntausenden Nicht-Tokyoter*innen zerstörte, wurde dies auf schlimmste Weise deutlich.Heute sind etwa 30 Prozent der 327 Kilometer langen Autobahn älter als 50 Jahre. Der Expressway ist verrostet, Risse sind überall zu finden. Ironischerweise offenbaren aber gerade diese baufällig gewordenen Hochstraßen, die vor 60 Jahren im Wachstumswahn entstanden sind, um die Vergangenheit zu überdecken, symbolisch die Ruinen der gescheiterten Träume – wie Wasseradern der Geschichte, die sich durch die Stadt ziehen.
Foto: Yu Minobe; © Goethe-Institut
Foto: Yu Minobe; © Goethe-Institut
Foto: Yu Minobe; © Goethe-Institut
Foto: Yu Minobe; © Goethe-Institut
Foto: Yu Minobe; © Goethe-Institut
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