Eine besondere Beziehung Thomas Mann und Italien

Fotopostkarte „Grandhôtel des Bains“ – Venedig, Lido; Im Hintergrund ein großes Gebäude, davor ein Gewässer mit zahlreichen badenden Menschen und zwei venezianischen Gondeln
Venedig – Schauplatz der 1911 entstandenen Novelle „Der Tod in Venedig“ | Foto (Detail): © ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_4887

Ein Leben lang kehrte er zurück nach Italien, in die Wiege seines Schaffens. Doch die Spuren, die Thomas Manns Italienaufenthalte in seinem Werk hinterlassen haben, ergeben ein erstaunlich düsteres Bild des Landes.

Am 10. Juli 1895 schreibt der zwanzigjährige Thomas Mann seinem Schulfreund Otto Grautoff: „In Italien wird viel schattige Ruhe in schweigsamen Hainen mein Schaffen begünstigen. Wenn ich dort nicht mindestens ein Dutzend Novellen concipiere, so will ich kein Künstler sein.“ Es sind die Worte eines orientierungslosen jungen Mannes, der in seiner Lübecker Heimat keinen Platz mehr hat und in der neuen Münchener Heimat seinen Platz noch nicht fand. Zwei Tage nach dem Verfassen des Briefes bricht Thomas Mann gen Süden auf, dem älteren Bruder Heinrich hinterher. Der sich über mehrere Monate erstreckende Aufenthalt führt nach Rom und in das vierzig Kilometer entfernte Städtchen Palestrina, dem Thomas Mann viele Jahre später in seinem Roman Doktor Faustus ein literarisches Denkmal setzt.

Italienaufenthalt – Grundstein des Weltruhms

Bereits im folgenden Jahr kehrt er zurück nach Italien – und diesmal wird er fast zwei Jahre bleiben.  Mit Heinrich lebt er in Rom, „Via Torre Argentina trentaquattro, drei Stiegen hoch“. Hier, unweit des Pantheons, bringt Thomas Mann Erzählungen wie Tobias Mindernickel und Der Bajazzo aufs Blatt. Und hier, fernab der norddeutschen Heimat, beginnt der spätere Literaturnobelpreisträger mit der Arbeit am monumentalen Epos seiner Herkunft, den Buddenbrooks. Heinrich Mann wird später einmal schreiben, in Rom habe ihn das Talent überfallen, und Gleiches gilt wohl auch für seinen jüngeren Bruder. Doch obwohl südlich der Alpen der Grundstein seines Weltruhms liegt, vermittelt Thomas Manns Werk ein düsteres Bild des Landes.

Viele Texte von Thomas Mann weisen einen Italienbezug auf: Im Zauberberg zählt der italienische Intellektuelle Lodovico Settembrini zu den Patienten des Sanatoriums, in Tonio Kröger gerät der gleichnamige Protagonist in Italien auf Irrwege, im Doktor Faustus erscheint Adrian Leverkühn in Palestrina der Teufel. Doch die beiden eindrucksvollsten Italientexte sind Der Tod in Venedig und Mario und der Zauberer. Beide schildern, auf ganz unterschiedliche Weise, das Erkranken einer Gesellschaft, beide haben ein fatales Ende und beide beruhen auf realen Italienaufenthalten Thomas Manns.

Niedergang und Unheil

In der 1911 entstandenen Novelle Der Tod in Venedig zieht es den geadelten Schriftsteller Gustav von Aschenbach plötzlich in die Ferne. Er tritt eine Reise nach Venedig an, wo, von den lokalen Behörden vertuscht, die Cholera wütet. Parallel zur Ausbreitung der Seuche vollzieht sich der persönliche Niedergang von Aschenbachs, als er sich in den vierzehnjährigen Tadzio als Inkarnation absoluter Schönheit verliebt. Im krassen Gegensatz zu dem polnischen Jungen steht eine Reihe obskurer Figuren, denen Gustav von Aschenbach im Laufe seiner Reise begegnet. Vom zwielichtigen Zahlmeister auf der Fähre, über den Gondoliere ohne Konzession, in dessen sargschwarze Barke er steigt, hin zum verkommenen Straßenmusiker auf der Hotelterrasse – das Gesicht Italiens im Tod in Venedig ist eines, das Unheil ahnen lässt. Und tatsächlich ist Gustav von Aschenbach am Ende seines Venedig-Aufenthaltes und der von Thomas Mann als „Tragödie einer Entwürdigung“ bezeichneten Novelle nur noch eine Karikatur seiner selbst.

Warnung vor dem Faschismus

Der wohl zweitbekannteste Italientext aus der Feder des Literaturnobelpreisträgers trägt den Titel Mario und der Zauberer und ist 1930 erschienen. Vier Jahre zuvor reiste Thomas Mann mit seiner Frau Katia und den beiden jüngsten Kindern in den Badeort Forte dei Marmi am Ligurischen Meer. Was die Familie dort erwartete, waren Faschismus und Hostilität gegenüber allem Fremden. Die stark autobiografische Novelle, untertitelt mit „Ein tragisches Reiseerlebnis“, ist nicht nur eine literarische Rekonstruktion und Verarbeitung ebendieses Urlaubs, sie ist auch eine eindringliche Warnung der deutschen Leserschaft vor dem Faschismus, den Thomas Mann mit der Figur des Zauberers Cipolla personifiziert. Denn dessen von der Familie des Erzählers besuchte Vorführung entpuppt sich schnell als Spektakel der Entwürdigung, in dem Cipolla seinem Publikum mithilfe von Hypnose den freien Willen raubt und es seinem eigenen unterwirft.

In Der Tod in Venedig und Mario und der Zauberer stellt Thomas Mann Italien als moralisch verkommenes, unheilbringendes Land dar. Keine Spur von der Mythisierung, die Johann Wolfang von Goethe etwa ein Jahrhundert zuvor in seinem Bericht Italienische Reise an den Tag legte und Italien so zum Sehnsuchtsland werden ließ. Und doch kehrte Thomas Mann bis ins hohe Alter immer wieder zurück nach Italien. Noch im Jahr vor seinem Tod schrieb der fast Achtzigjährige in seinem Tagebuch von einer „Sympathie für Rom mit seinen Obelisken und Brunnen“, gefolgt vom Wunsch, wieder in der italienischen Hauptstadt zu leben. So ambivalent das Verhältnis auch scheint, fest steht: Hätte es den zweijährigen Italienaufenthalt kurz vor der Jahrhundertwende nicht gegeben, wäre Thomas Mann vielleicht nicht der große Literat geworden, der er auch noch 150 Jahre nach seiner Geburt ist.