Der Zauberberg Ein Streich der Selbstentfaltung

Theodor W. Adorno empfahl den Leser*innen von Manns Roman, auf die mühsame Arbeit der Entschlüsselung von Symbolen zu verzichten, den Autor zu vergessen und stattdessen das Werk dreimal zu lesen. Die Autorin Katarzyna Trzeciak schreibt darüber warum es sich lohnt, diesen Vorschlag zu erwägen.
Für Thomas Mann war Theodor Adorno als Arnold-Schönberg-Forscher von Bedeutung. Letzterer postulierte 1962 sinngemäß, beim Mannschen Werk setze das wahre Verständnis erst ein, wenn man nicht mehr nach dem Baedeker schiele, und empfahl dem Leser des Zauberbergs, mühseliges Dechiffrieren der Symbolik sowie das Nachvollziehen jener philosophischen Einflüsse, welche die Autorenabsicht darlegen würden, zu unterlassen. Stattdessen solle man den Roman einer dreifachen Musterung unterziehen und den Autor dabei hintanstellen, und genauso was er damit sagen wolle oder im Inhalt deponiert worden sei. Warum auf diesen Vorschlag eingehen, der heutzutage als intellektuelle – sagen wir – Schöngeisterei daherkommt? Wozu die Empfehlung zur wiederholten Lektüre eines Romans, der nicht nur mit Sekundärliteratur überfrachtet, sondern auch durch nachgewiesene mannigfache Leserfrustration vorbelastet ist? Und kann man überhaupt den Anmerkungen eines derart fordernden Philosophen, wie dem Autor der Negativen Dialektik, trauen?Ein höherer Jux
Laut Adorno beginne – Thomas Mann zum Trotz – das Werk da, wo die Absicht des Autors endet. Bloß hielt der 1939 in Princeton eine Vorlesung als Einführung in den Zauberberg, wo es heißt, das Werk habe eine immanente, bedeutend weitreichender Absicht, als jene des Autors selbst. Somit denkt er durchaus über Kunst so, wie sein intellektueller Partner, welcher in seinem Essay die Literatur vom konkreten Autor befreien wollte. Es gibt übrigens mehrere spezifische Ähnlichkeiten, da sich Adorno in seinem Großwerk Ästhetische Theorie mehrfach auf Mann bezieht, dessen Kunst er als „höheren Jux“ sieht. Adorno zitiert dabei nicht genau, gibt keine Quelle an und bezieht sich so direkt wie äquilibristisch auf Mann, da ihn schlussendlich das Ideal des Zirkuskünstlers interessiert, der Kunst als „Zauberkunststück“ erschafft: „Auf dem obersten Formniveau wiederholt sich der verachtete Zirkusakt“. Ähnlich hält es Mann mit dem Zitieren von Autoritäten, wenn er seinen amerikanischen Hörer*innen den Kern des Zauberbergs offenbart. Er beruft sich dabei auf Goethes „sehr ernsten Scherz“, wie dieser dereinst seinen Faust beschrieben und Mann den Zauberberg angelegt hat. Schließlich maßt sich dieser an, eine zweifache Lektüre einzufordern, während Adorno eine dreifache Lektüre und das Zurückstellen des Autors aufgrund der besonderen Romantechnik und ihrer musikalischen Komposition empfiehlt. Dies tut er aus genau dem Grund, den Adorno vernachlässigen wollte. Beide Denker sind über eine Art Gauklerkunststück im Spiel von Unterschieden und unerwarteten Ähnlichkeiten verwandt; einem eigenen Humor der dort zu Tage tritt, wo Rezeptions- und zu einem gewissen Grad Literaturgeschichte oder auch Philosophie einzig Ernsthaftigkeit, und die Schwere des intellektuellen sowie literarischen Oeuvres sehen heißen.Placet experiri
Und was, wenn man den Zauberberg als Jux und tollkühnes Gauklerstück sehen will? Placet experiri, wie Settembrini mit Petrarca zu sagen pflegt. Damit steckt er Hans Castorp an, worauf der unbedarfte Held den Leitspruch in einer Situation anwendet, die seinem geistigen und geistlichen Mentor zutiefst widerstreben muss: Im Kapitel Fragwürdigstes nimmt er, von einer „unverantwortlichen Neugier des Bildungsreisenden“ geleitet, an einem spiritistischen Experiment teil. Placet experiri – es ist den Versuch wert. Die Protagonistin dieses Versuchs ist die junge Ellen Brand, ein „liebes Ding von neunzehn Jahren“, wie der Erzähler prätentiös verrät. Das Mädchen hat Talent als Medium, wodurch das „spiritistische Gesellschaftsspiel“ im vertrauten Zirkel, zu dem Hans Castorp stößt, ermöglicht wird. Thomas Mann staffiert das „Spiel“ mit dem sattsam bekannten Equipment: Es gibt Gläserrücken zur Kommunikation mit dem buchstabierenden Geist und schließlich nimmt auch Castorp Kontakt auf, um herauszufinden, wie lange sein Aufenthalt im Sanatorium noch dauern würde. Als Antwort erhält er den raunenden Befehl: „Geh … quer!“, der nicht nur in ihm, sondern der gesamten anwesenden Gesellschaft keine geringe Bestürzung hervorruft. Und wäre das noch nicht genug, taucht auch noch ein „Souvenir“ auf seinen Knien liegend auf, das er nicht zur Seance mitgenommen hat und ihn demnach zutiefst verwundert. Castorp kann die kleine Glasplattten-Aufnahme jedoch schnell verbergen. Was also ist ihm da widerfahren? Als er Settembrini von der Seance berichtet, ist sein Mentor empört – über den Betrug. Doch verrät die indirekte Rede dieser Passage, dass Castorp mit einer derartigen Auflösung nicht einverstanden ist. Bei dieser Gelegenheit – der versuchten spiritistischen Sitzung – nämlich erkennt er für sich die Bedeutung des Begriffs „Gaukelei“: „Wie Herr Settembrini über das Wort ‚Gaukelei‘ denke, diesen Begriff, in welchem Elemente des Traumes und solche der Realität eine Mischung eingingen, die der Natur vielleicht weniger fremd sei, als unserem derben Tagesdenken. Das Geheimnis des Lebens sei buchstäblich bodenlos, und was Wunder denn, wenn gelegentlich Gaukeleien daraus aufstiegen, die – und so fort in unseres Helden freundlich zugeständlicher und reichlich laxer Art ...”. Diese Erwägungen über eine etwaige „Gaukelei“ werden in der Erzählung mit der autorentypischen Nachsicht gegenüber einer etwaigen Figurenentwicklung befriedet: Immer wenn Castorp auf eine höhere Bewusstseinsebene gelangen könnte, wird so eine Möglichkeit vom Autor sofort verworfen. Zauberkunststückchen und somit „Gaukeleien“ werden in der Erzählung als Jux höherer Ordnung gefasst und sind somit Verspottung von Erziehung oder Entwicklung des jungen Helden.Hans Castorp hat sich an der Teilnahme am Experiment versucht, jedoch – entgegen der Lesererwartung – verwehrt uns der Autor ein Ergebnis. Ist das Kapitel auch umfangreich und detailversessen, entwickelt es sich nicht so, dass es zu einer conclusio, somit geistigen und/oder intellektuellen Veränderung, respektive Reife, des Protagonisten führen würde. Das lateinische experientia, stammt vom Verb experior und bedeutet: „auf die Probe stellen“, was eher auf eine dauerhafte Tätigkeit denn Erkenntnis verweist. Und es ist nicht so, dass Hans Castorp es nicht probieren würde! Er macht seine Erfahrungen und bleibt dennoch die ganze Zeit über – vom Erzähler altvorderhaft vorgeführt – dasselbe kompromissheischende Subjekt.