Die polnische Literaturkritikerin Justyna Sobolewska beschreibt, wie sie in der Handlung des Romans „Der Zauberberg“ versinkt. Dabei nimmt sie uns in den ganz eigenen Zeitablauf des Geschehens mit.
Seit drei Monaten ist mir
Der Zauberberg Gute-Nacht-Lektüre. Im alten, dunkelblau gebundenen Hardcover versinke ich im Alltag des Sanatoriums „Berghof“ – in Decken eingewickelt auf der Veranda, wo selbst im August ein eisiges Lüftchen weht. Ich verfolge die Fieberkurven, erfahre gleich zu Beginn, dass die Leichen mit einem „Bobschlitten” ins Tal gebracht werden, betrachte die hervortretenden Halswirbel der Madame Chauchat, lausche dem Schlagen der Türen und sekundiere den Disputen von Settembrini und Naphta.
Erinnerungsstück
Der Schutzumschlag ist schon arg mitgenommen, weil ich die beiden Bände überall hin mitgenommen habe. Sie hat einen soliden Leineneinband, die Ausgabe von 1965. Im ersten Band die Widmung: „Mögest Du es nochmals verlieren …“ und im zweiten: „ … auf dass Du’s wieder findest“. Der Roman ist das einzige Erinnerungsstück an eine bestimmte Begebenheit: Ich erinnere mich an die Lektüre im Zelt und die Rückfahrt im Zug, bei der mir jemand den Thomas Mann aus dem Abteil gestohlen hat. Geblieben sind mir der Unwillen, im Zelt zu schlafen … und die Liebe zu diesem Buch. Den Thomas Mann im dunkelblauen Einband habe ich in einem Antiquariat nochmals bekommen, ihn dann aber jahrelang liegenlassen. Jetzt fiel mir ein Kassenzettel vom polnischen Intershop vom November 1965 aus dem ersten Band. Seither verwende ich ihn als Lesezeichen. Einzelpreis 0,70 – was das wohl für ein Westprodukt gewesen sein mag – Kaffee, Alkohol, Schokolade?
Wie gut man auf dem Berghof isst! „Dann setzte er sich und nahm beifällig wahr, daß man das erste Frühstück hier als eine ernste Mahlzeit behandelte. Es gab da Töpfe mit Marmeladen und Honig, Schüsseln mit Milchreis und Haferbrei, Platten mit Rührei und kaltem Fleisch; Butter war freigebig aufgestellt, jemand lüftete die Glasglocke über einem tränenden Schweizer Käse, um davon abzuschneiden, und eine Schale mit frischem und trockenem Obst stand obendrein in der Mitte des Tisches”. Das Mittagessen sechsgängig und sonntags noch exquisiter: „Zum Mittagessen gab es ein Chaud-froid von Hühnern, mit Krebsen und halbierten Kirschen verziert; zum Gefrorenen Patisserie in Körbchen, die aus gesponnenem Zucker geflochten waren, und dann auch noch frische Ananas”. Hans Castorp beobachtet den Riesenappetit, den alle im Speisesaal an den Tag legen: „ein Heißhunger, dem zuzusehen wohl ein Vergnügen gewesen wäre, wenn er nicht gleichzeitig auf irgendeine Weise unheimlich, ja abscheulich gewirkt hätte”.
Abgründige Ansichten
Es ist ein sehr körperlicher Roman, steht doch eine Krankheit im Mittelpunkt, die Schatten auf der Lunge hervorruft. Und da wären diesbezüglich noch das sinnliche Begehren des Hans Castorp, der jeden Körperteil Clawdias mit den Augen studiert, sowie der Blick ins Körperinnere mittels Röntgenaufnahmen, der seinerseits dazu führt, sich über Geist und Materie auszutauschen. Diese Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini sind meisterlich! Erst jetzt, nach Jahren, ist mir klar geworden, wie abgründig die Ansichten von Naphta, dem jüdischen Intellektuellen und Jesuiten, sind. Er wird zum Inquisitor vor dessen Einfluss Settembrini, der Humanist in kaputten Handschuhen, Freimaurer, Aufklärer, fortschrittlich und republikanisch, Hans Castorp warnt. Naphta lobt das Mittelalter, hält den Menschen als solchen für schlecht, weshalb er mit Gewalt zu knechten sei, damit er Gottes Reich diene. Die Auseinandersetzungen nehmen zu – um im berühmten Duell zu enden – und während dieser Diskussionen werden auch die Veränderungen an Hans Castorp offenkundig. Der wird ein anderer als der eingangs durchschnittliche, nicht allzu aufgeweckte Jüngling, das „Sorgenkind des Lebens“. Castorp wird selbstsicherer und lernt, seine Meinung zu vertreten. Er mischt sich in Diskussionen ein, hat etwas zu Zauberkunststücken und dem Phänomen der Zeit zu sagen.
Wie die Zeit vergeht
Ja, ja die Zeit! Sieben Wochen erscheinen dort am Berg wie sieben Tage – oder sieben Jahre? Für mich war das Eintauchen in den „Zauberberg“ der Einlass in einen anderen Zeitablauf. Der Erzähler erinnert mehrfach daran, dass die Zeit während der Erzählung unaufhaltsam voranschreitet: „Unsere kleinste Zeiteinheit ist der Monat. Wir rechnen im großen Stil, – das ist ein Vorrecht der Schatten”, meint Settembrini. Die Natur der Zeit zählt zu den wesentlichsten Komponenten des Romans und wird Refrain-artig Kapitel für Kapitel wiederholt: „Die Zeit, die nicht von der Art der Bahnhofsuhren ist, deren großer Zeiger ruckweise, von fünf zu fünf Minuten fällt, sondern eher von der jener ganz kleinen Uhren, deren Zeigerbewegung überhaupt untersichtig bleibt, oder wie das Gras, das kein Auge wachsen sieht, ob es gleich heimlich wächst, was denn auch eines Tages nicht mehr zu verkennen ist”. Und auch ich ziehe den Moment hinaus, um mitten im Roman bleiben zu können. Selbst diesen Text möchte ich nicht zu Ende bringen, obwohl es schon nach Mitternacht ist. Auch wenn ich an die Stelle komme, wo wir uns vom Helden trennen müssen: „Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus!”, will ich das Buch noch nicht schließen. Glücklicherweise kommt mir da Thomas Mann entgegen, wenn er dem Leser empfiehlt, den Roman erneut zu lesen. – Um das ganze Geflecht oszillierender Bedeutungen und Relationen besser ergründen zu können? „Am ehesten ist man zu einer anderen Interpretation geneigt“, schreibt Małgorzata Łukasiewicz in ihrem Buch
Jak być artystą na przykładzie Tomasza Manna (Künstler sein am Beispiel Thomas Mann). „Er wollte sagen, dass
Der Zauberberg, dass die Literatur ... etwas völlig Anderes als das Leben sei, das, wenn man es mit viel Mühe ans Ende schafft, sich nicht von Neuem beginnen lässt“.