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Chancen und Risiken des Epochenjahres 2012


Drei der am längsten regierenden arabischen Despoten, der Tunesier Ben Ali, der Ägypter Hosni Mubarak und der Libyer Gaddafi sind von ihren Völkern vertrieben worden. Was bedeuten diese Veränderungen für das Verhältnis von islamischer Welt und Westen?

Claudia Wiens © Goethe-Institut Der revolutionäre Wasserstand

Um die Veränderungen in der Region zu begrüßen, muss man nicht davon ausgehen, dass die arabische Welt eine ähnliche Entwicklung nehmen wird wie Osteuropa nach dem Fall der Mauer. Dies ist schon aus wirtschaftlichen Gründen eher unwahrscheinlich – es fehlen wohlwollende, an Demokratie und Rechtsstaat interessierte und zugleich finanzkräftige Nachbarstaaten, wie sie die Osteuropäer in Gestalt der EU vorfanden. Die Araber finden unter ihren Nachbarn nur ebenfalls arme Länder oder überaus reiche, die die Demokratie jedoch als Teufelszeug erachten und ihre Reichtümer bereits jetzt dazu einsetzen, um sie nach Kräften zu untergraben. In zehn Jahren wird die arabische Welt vermutlich eher so aussehen wie Lateinamerika als wie Europa heute. Aber alles ist besser als die repressive, deprimierende und verdummende Stagnation, die die arabische Welt bis zum magischen Jahr 2011 im Bann hielt und aus dem sie nicht einmal die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die darauf folgende militärische Eskalation in Afghanistan und Irak zu wecken vermochte.

Eher dürfte es umgekehrt gewesen sein. Der 11. September und die westliche Reaktion darauf verlängerte die Stagnation, weil die westliche Unterstützung der repressiven, aber eben prowestlichen und islamistenfeindlichen arabischen Diktaturen mit einem Mal deutlich als das bessere Übel erschien. Tatsächlich waren es jedoch ausgerechnet diese Regimes, die die Bevölkerung in die Arme der Islamisten trieben, der einzigen Opposition, die über nennenswerte Mittel, die nötige Infrastruktur und eine Verankerung in der Bevölkerung verfügte. In dieser Konstellation rührten die Erfolge des Islamismus vor allem daher, dass es ihm gelungen ist, die ohnehin unscharfen Grenzen zwischen politischer Religion und traditioneller Gläubigkeit im eigenen Sinn zu unterwandern – ein Phänomen, dass nicht mit der mangelnden Trennung von Staat und Religion im Islam zusammenhängt, sondern schlicht damit, dass in repressiven Staaten der im sonstigen öffentlichen Raum unterdrückte politische Diskurs nirgendwohin anders als in die religiöse Sphäre ausweichen kann.

Der in weiten Teilen schon abgewirtschaftete politische Islamismus fand aus Trotz gegen die westliche Eskalationsstrategie neuen Zulauf, und in der Folge griff die anti-westliche Propaganda auch auf säkulare Kreise über. Geschürt durch die nach dem 11.9.2001 in breiteren Kreisen rezipierte Islamkritik pflegte der Westen die bis heute grassierende Paranoia, dass die arabische Zivilgesellschaft und Demokratiebewegung am Ende nur das Feigenblatt, ja der Steigbügelhalter der Islamisten sind.

Schließlich wurden in dieser Atmosphäre viele Israelis zu dem Glauben verführt, Kompromisse mit den Palästinensern schiebe man am besten so lange wie möglich auf und stärke die zukünftige Verhandlungsposition, indem man die Siedlungstätigkeit im Westjordanland weiter vorantreibt. Die 2006 durchaus demokratisch gewählte palästinensische Regierung unter Führung der Hamas wurde boykottiert und schließlich im Gazastreifen unter Quarantäne gesetzt, was nach dem Muster einer self fulfilling prophecy genau zu jener Radikalisierung der Hamas führte, die der Westen durch ihre Einbindung in eine demokratisch gewählte Regierung zu verhindern versucht hatte.

Ohne 9/11 und den Einmarsch im Irak, so dürfen wir vermuten, hätte 2011 einige Jahre früher stattgefunden, und selbst Saddam Hussain wäre womöglich auf ähnliche Weise gegangen worden wie gegenwärtig Gaddafi – sicher nicht unblutig, aber nicht mit einem Nachspiel, das bis heute den Irak in Blut taucht. Dort sterben nach wie vor mehr Menschen durch Gewalt als selbst in den Ländern, die sich im hellsten revolutionären Aufruhr befinden.

Perspektiven für Israel

Die arabischen Revolutionen haben den Tod Bin Ladens zu einer Fußnote gemacht und den israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Stagnation befreit. Vordergründig ist dies Israel vorerst zum Nachteil gereicht, da Ägypten entgegen israelischem Wunsch die Grenze zum Gazastreifen geöffnet hat und die Hamas wieder in eine gesamtpalästinensische Regierung eingebunden worden ist. Es dürfte viele in Israel geben, die es mittlerweile bereuen, in den letzten Jahren und aus einer Position der Stärke heraus keinen Friedensvertrag mit den Palästinensern geschlossen zu haben. Jetzt wächst das Selbstbewusstsein der Araber, und es ist nicht mehr anzunehmen, dass sich ihre Regierungen dem westlichen Diktat ähnlich bereitwillig unterwerfen, wie es die autokratischen Regimes vor den Revolutionen taten. Wenn es trotz alledem in absehbarer Zeit zu einem israelisch-palästinensischen Frieden kommt, darf sich Israel indessen Hoffnung machen, dass dieser verlässlicher und weniger kalt sein wird als jeder Frieden, der mit oder im Umfeld von Despoten geschlossen worden ist. Langfristig könnte damit auch Israel von den Entwicklungen profitieren, so turbulent diese in nächster Zeit verlaufen mögen. Im Endeffekt wäre Israel im Nahen Osten dann nur eine Demokratie unter vielen. Es hätte keine Sonderstellung mehr inne, weder in den Augen des Westens noch auch, so ist zu hoffen, in den Augen der Araber. Die „Normalisierung“ (tatbî’), derzeit im Arabischen noch als Synonym zu „Verrat“ gebraucht, wäre vollzogen.

Diese Vision ist kein frommer Wunsch. Für beide Seiten sind die objektiven Anreize für eine solche Normalisierung groß, so mächtig die subjektive Stimmung aktuell dagegen spricht. Wir im Westen würden ebenfalls davon profitieren, da unsere Solidarität mit Israel und die vorschnelle Gleichsetzung Israels mit dem Westen die Normalisierung unseres eigenen Verhältnisses zur arabischen Welt behindert. Wenn aber der arabische Nahe Osten demokratische Formen annimmt, verdienen vor allem die Kräfte in Israel unsere Unterstützung, die ihren Staat nicht für alle Ewigkeit als Ausnahme und Sonderfall in der Region erachten, sondern als integralen und integrierten Teil des östlichen Mittelmeers, des Nahen Ostens, des ‚Orients’. Bliebe Israel permanent ein Fremdkörper dort, stünden seine Überlebenschancen auf lange Sicht sehr schlecht.

Wie wenig das Land aber auf die Veränderung vorbereitet ist, zeigte sich ausgerechnet in dem Moment, da die Araber aufbrachen. Noch Mitte Januar 2011, als Ben Ali in Tunesien bereits gestürzt war, pflegten nach übereinstimmenden Medienberichten die israelischen Geheimdienste die Überzeugung, Mubaraks Stellung sei ungefährdet. Will man nicht annehmen, die besten Geheimdienste der Welt hätten über zu wenig oder über fundamental falsche Informationen verfügt, liegt der Schluss nah, dass es eine irreführende Wahrnehmungsschablone war, die das Erkennen der Realität unmöglich machte.
 
Man wird sich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, wenn man diese Wahrnehmungsschablone als Überbleibsel einer kolonialen Mentalität identifiziert, einer Mentalität, die in fast allen Beobachtern wirksam war, selbst solchen, die mit der arabischen Welt sympathisierten. Im Klartext läuft diese Mentalität auf eine zumindest unbewusste Unterschätzung von Arabern und Muslimen hinaus. Man hält sie für unterentwickelt, rückschrittlich, weniger kultiviert, unselbstständig, unaufgeklärt und aufgrund all dessen auch nicht zu selbstbestimmter und zielorientierter politischer Aktion fähig. Und hat die arabische Geschichte seit dem Fall der Berliner Mauer diese Vorurteile nicht bestätigt? Man hätte den Verdacht hegen können, diese Mentalität habe auch die Araber selbst infiziert. Nach Art eines kollektiven Stockholmsyndroms schienen sie – zumindest vor den Kameras – all zu oft denjenigen Kräften zuzujubeln, die sie in Geiselhaft nahmen: den eigenen Diktatoren und den Islamisten. Die Araber, dürfen wir schließen, haben sich auch selbst überrascht.

Abschied von einer Mentalität

Daraus folgt: 2011 ist in noch einem größeren Ausmaß ein Epochenjahr, als offensichtlich ist. Dieses Jahr zieht nicht nur – auch dank dem Tod, ja man darf sagen der Erlegung Bin Ladens – einen dicken Schlussstrich unter die zehn Jahre nach 9/11; es markiert den Anfang vom Ende einer historischen „longue durée“, einer Großepoche, die mehr als zweihundert Jahre lang wirksam gewesen ist. Gemeint ist die Geschichte des abendländischen Imperialismus und der von ihm etablierten, bis in jüngste Zeit wirksamen kolonialen Strukturen. Die gestürzten und in nächster Zeit wahrscheinlich stürzenden arabischen Regimes haben diese Strukturen im Inneren ihrer Länder oft bruchlos weitergeführt oder sie, meist inspiriert durch sozialistische Vorbilder wie in Ägypten, Libyen, Syrien und Algerien, durch solche ersetzt, die für die Bevölkerung ähnlich entmündigende, ähnlich katastrophale Ergebnisse zeitigten.

Eine zentralistische Einparteienherrschaft mit einem Präsidenten an der Spitze, der nicht rechenschaftspflichtig ist, jedoch Wirtschaft, Militär, Rechtssystem, Parlament und Medien eines Landes kontrolliert, und ein König oder Fürst, der ähnliche Befugnisse hat (wie in Marokko, Saudi-Arabien, Jordanien, den Golfemiraten), unterscheidet sich nicht fundamental von einem Kolonialregime, das mit Hilfe von Marionettenregierungen die eigenen Interessen durchsetzt, das Land ausraubt und die einheimische Bevölkerung verachtet. Dass sie ihre Würde zurückerhalten und endlich wie Menschen behandelt werden möchten, ist ein viel zitiertes Motiv in den Parolen der arabischen Demonstranten gewesen. Aber war dies nicht schon die Losung der antikolonialen Befreiungsbewegungen?

Sachlich durchaus korrekt sind nahezu alle Regimes in der arabischen Welt von der Bevölkerung als Ausführungsgehilfen und verlängerter Arm des Westens wahrgenommen worden. Zum Teil konnten sie sich überhaupt nur dank der Unterstützung durch den Westen so lange an der Macht halten. Die erwähnte Öffnung der Grenze zum Gazastreifen durch die ägyptischen Behörden nach dem Sturz Mubaraks erscheint vor diesem Hintergrund weniger ein Akt der Solidarität mit den Palästinensern als ein Akt eigener wiedergewonnener Souveränität: Die Ägypter wollen sich ihr außenpolitisches Handeln nicht mehr von westlichen Prioritäten bestimmen lassen.

Aber nicht nur die arabischen Revolutionen deuten an, dass die Epoche des Imperialismus sich ihrem Ende zuneigt. Es ist vielmehr auch die sich in einflussreichen Kreisen im Westen durchsetzende Einsicht, die Entwicklungen in der islamischen Welt nicht mehr auf direkte Weise und mit Hilfe simpler Mechanismen steuern zu können. Wenn, wie in diesem Jahr vom amerikanischen Präsidenten groß verkündet, von 2014 an die westlichen Truppen nach dreizehn Jahren „Aufbauarbeit“ und „Antiterrorkampf“ aus Afghanistan abziehen, und zwar gleich allen ihren Vorgängern voraussichtlich als gescheiterte, wenn nicht geschlagene, dürfte sich sobald kein Bündnis und keine westliche Regierung mehr zu einer ähnlichen Operation im Orient verleiten lassen.

Auch in Iran sitzt ein Regime, dessen Zeit eigentlich abgelaufen ist und das beim städtischen und gebildeten Teil der Bevölkerung seit langem diskreditiert ist. In Gestalt der Proteste nach der vermutlich gefälschten Präsidentenwahl im Sommer 2009 fand in Iran gleichsam die Generalprobe zu den arabischen Aufständen von 2011 statt. Sie scheiterte zwar, aber gab das Muster für spontan mittels Mobiltelefonen und Internet koordinierte Protestbewegungen vor, wie sie in der arabischen Welt erfolgreich gewesen sind.

Warum der Aufstand in Iran vorläufig gescheitert ist, lässt sich nach den arabischen Erfahrungen zumindest ein Stück weit erklären. Zum einen ist Iran, anders als die arabischen Staaten mit ihrer gemeinsamen Sprache, ihren transnationalen Medien und ihrem intensiven sozialen und intellektuellen Austausch untereinander, weitgehend isoliert, ja schlimmer noch, es hat mit Irak und Afghanistan zwei Nachbarstaaten im Bürgerkrieg und unter amerikanischer Besatzung. Der äußere Druck auf das Land ist damit viel größer und ein revolutionärer Dominoeffekt, wie er sich in der arabischen Welt ergeben hat, kann sich von außen nicht unterstützend einstellen. Der revolutionäre Impetus muss allein im Land selbst erzeugt und aufrechterhalten werden.

Zum anderen leidet die Protestbewegung in Iran unter der mangelnden Einbindung der ärmeren, weniger gebildeten und strenggläubigeren Bevölkerungsteile, als deren Fürsprecher und Wohltäter die Regierung unter Präsident Ahmadinedschad und die konservativeren Elemente des herrschenden Klerus sich seit jeher stilisieren. Auch in dieser Hinsicht steht aber zu erwarten, dass sich das Machtgefüge allmählich zugunsten der Opposition verschiebt, wenn einesteils der äußere Druck mit dem Abzug westlicher Truppen aus Irak und Afghanistan nachlässt, andernteils die demokratischen Veränderungen in der arabischen Welt an Nachhaltigkeit gewinnen und auch das syrische Assad-Regime stürzt, Irans einziger echter arabischer Verbündeter.

Die These vom Jahr 2011 als Wendejahr für die Epoche des Imperialismus wird im Übrigen ausgerechnet durch den Blick auf die Schwierigkeiten der revolutionären Bewegung in Iran bestätigt. Falls es nämlich zutrifft, dass mit den arabischen Autokraten, wie 1979 mit dem iranischen Schah, Regimes gestürzt wurden, die wenig anderes als die autochthone, allenfalls mit einer neuen, etwa sozialistischen Ideologie versehene Fortsetzung von Kolonialsystemen waren, so hat die Islamische Republik, trotz vieler menschenverachtender Gemeinsamkeiten mit den gestürzten arabischen Diktaturen, doch zumindest mit der Hörigkeit gegenüber dem Westen und der Verachtung der eigenen Traditionen Schluss gemacht. Der latente Widerstand gegen das Regime kann sich daher in Iran auf bestimmte Elemente, die in der arabischen Welt mit entscheidend waren, nicht stützen: den konservativen Islam und die Teile der Bevölkerung, die, obzwar eigentlich verarmt und perspektivlos, vom Regime mittels aufwendiger Umverteilungen bei Laune gehalten werden.

Sieg der westlichen Werte?

Wenn das Jahr 2011 aber unbestreitbar eine weltpolitische Epochenwende markiert, dürfte es mehr als angezeigt sein, aus diesem Anlass auch eine geistige Wende zu vollziehen und die mentalen Versehrungen aufzuarbeiten, die sich seit 2001, wenn nicht schon lange vorher, in der Begegnung mit der arabisch-islamischen Welt akkumuliert haben. Und so sehr sie lange schon ein Desiderat gewesen ist, zeichnen sich ihre Konturen vor dem Hintergrund der Situation von 2011 nur umso stärker ab.

Diese Versehrungen haben sich naturgemäß auf beiden Seiten niedergeschlagen, im Westen ebenso wie in der islamischen Welt. Ihre offensichtlichste Gestalt ist ein permanentes gegenseitiges Misstrauen, begleitet von Anschuldigungen und Vorwürfen. Dieses Misstrauen, das 2001 und in den Jahren danach seinen Höhepunkt erreicht hatte, wird – auf beiden Seiten – befeuert durch Unkenntnis, Ignoranz, Vorurteile und teils gezielte Desinformation. Überzogene Erwartungen und ideologische Verblendungen treten hinzu und schaukeln sich wechselseitig hoch.

Unverhofft bieten nun die arabischen Revolutionen die Gelegenheit, dieses Misstrauen zu überwinden. Und doch beobachten wir vielfach dieselbe Verunsicherung und Angst wie früher. Was könnte jetzt nicht alles auf uns zukommen an Flüchtlingsströmen und unerlässlicher Wirtschaftshilfe, an Ölkrisen, radikalislamischen Regierungen und Bürgerkriegen, in die wir womöglich hineingezogen werden? Doch auch wenn die Angst immer eine vor der Zukunft ist, steht sie im Bann der Vergangenheit und ist das Resultat vieler Jahrzehnte entfremdeter Politik, sei es in der arabischen Welt selbst, sei es, von Seiten des Westens, im Umgang mit ihr. Um den Blick frei zu bekommen, bräuchte man eine transkulturelle Psychoanalyse.

Für die meisten, besonders die islamkritischen Beobachter, überraschend, bekunden die arabischen Revolutionäre jedoch Werte, die nahezu vollständig aus dem westlichen, beziehungsweise, halten wir die westlichen Werte für universal, dem universalen Wertekanon stammen und die sich auch in unseren Breiten ein jeder auf die Fahnen schreiben könnte, ja auf die Fahnen schreiben sollte. Eines der beeindruckendsten Beispiele dafür bot die vom Satellitenkanal al-Jazeera live übertragene Freitagspredigt des jungen libyschen Religionsgelehrten Wanis al Mabruk vor mehreren Zehntausend Gläubigen in Benghazi am 25.3.2011. Dies ist das erfreuliche Indiz für eine trotz allen Misstrauens erfolgreiche westliche Vermittlung dieser Werte, oder aber (und das wäre noch besser!) dafür, dass es sich dabei tatsächlich um universelle, zumindest problemlos universalisierbare Werte handelt.

Vor diesem Hintergrund fällt rückblickend auf, dass das arabische Misstrauen gegenüber Europa und den USA ohnedies weniger islamisch oder sonst wie kulturspezifisch begründet worden ist, sondern der wiederholten Erfahrung westlicher Doppelzüngigkeit entsprang: Die Werte, die der Westen verkündete, missachtete er häufig selbst, und zwar gerade in der Auseinandersetzung mit Muslimen und mit der islamischen Welt, sei es direkt, etwa in Guantanamo, in Abu Ghraib oder im Umgang mit Flüchtlingen; oder indem der Westen mit Machthabern kooperierte und diese stützte, welche die westlichen Werte unübersehbar mit Füßen traten, wie die jetzt gestürzten arabischen Diktatorenpräsidenten.

Die Janusköpfigkeit (Doppeldeutigkeit) im Umgang mit der arabisch-islamischen Welt zieht sich jedoch – und an diesem Punkt versehren wir uns selbst – mitten durch unsere eigene Gesellschaft. Gemeint ist die Diskrepanz zwischen Regierungspolitik und Zivilgesellschaft, zwischen offiziellem Handeln in der hohen Politik und dem Credo der flach profilierten soft-power regierungsunabhängiger, aber in aller Regel vom Staat mitgetragener Institutionen. In Ägypten arbeiteten unsere Stiftungen, unsere Kultur- und Austauschinstitute, unsere mit viel staatlichem Geld geförderten NGOs für die Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft, während die hohe Politik das autokratische Regime Mubarak in Wort und Tat (vor allem durch wirtschaftliche Zusammenarbeit) stützte. Ähnliches gilt für zahlreiche andere Staaten, sogar für Syrien.

Bei dieser Janusköpfigkeit vertritt die offizielle Regierungsebene den politischen Realismus und den unmittelbaren Nutzen; die meist im kulturellen und sozialen Bereich tätige soft-power halbstaatlicher Organisationen und NGOsist hingegen für die Moral zuständig. Die Unglaubwürdigkeit einer solchen Aufspaltung von politischer Moral und politischem Handeln liegt auf der Hand und ist natürlich auch arabischen Beobachtern nicht entgangen. Andernfalls hätte man schon annehmen müssen, dass sich das Goethe-Institut in Kairo, wenn es, wie im Mai 2009, dem regierungskritischen Schriftsteller Alaa Al-Aswani ein Forum bietet, gegen seinen wichtigsten Geldgeber, das Auswärtige Amt, verschworen haben muss, dessen Chef den ägyptischen Präsidenten im Mai 2010 einen „Mann mit enormer Erfahrung, großer Weisheit und die Zukunft fest im Blick“ genannt hat. Die Komplexität unseres internationalen politischen Handelns, das dank demokratischer Gewaltenteilung in selbstreferentielle Systeme fast Luhmann’scher Art aufgesplittert und zu keiner einheitlichen Zielsetzung mehr fähig ist, ist wohl unaufhebbar geworden. Eine große Schwäche, ein empörend wunder Punkt im westlichen Selbstbild ist sie nichtsdestoweniger. Auf die damit einhergehende Korrumpierung antwortet aus einem im Prinzip richtigen moralischen Impetus heraus nicht zuletzt die Islamkritik. Sie führt Politik und Moral wieder zu einer einzigen Weltanschauung und Zielsetzung zusammen – freilich um den Preis eines arg verzerrten Blicks auf die Welt.

Während sich das westliche Misstrauen auf die Frage nach der Demokratietauglichkeit der arabischen Gesellschaften beruft, spielt (von Randgruppen abgesehen, die in unseren Medien leider oft als repräsentativ dargestellt werden) für die arabischen Bürger der Islam offenbar keine prominente Rolle bei der Kritik am Westen – eine Asymmetrie, die zumindest zum Teil dadurch erklärt werden kann, dass die Wahrnehmung des Islams als Gegner unseren Blick dafür getrübt hat, dass selbst der islamisch eingefärbte Widerstand, sei es gegen die despotischen Staatsapparate in der arabischen Welt, sei es gegen Israel oder gegen die westliche Intervention in Afghanistan und im Irak, für Ziele einzutreten vorgibt, mit denen wir uns ebenfalls identifizieren könnten: die Achtung der Menschenwürde, politische, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe, Rechtssicherheit, Mitbestimmung, Autonomie, Demokratie, gute Regierungsführung und freie Meinungsäußerung.

Selbst traditionell und orthodox gesinnte Muslime fordern dies, und das ist ein gutes Zeichen selbst dann, wenn die begründete Befürchtung besteht, dass diese Kräfte, einmal an der Macht, die vordem geforderten Rechte ihren politischen Gegnern nicht zugestehen. Für diese Art von Doppelzüngigkeit braucht es nicht den Islam, wir kennen sie ebenso von anderen einstmals revolutionären Bewegungen unterschiedlichster ideologischer Couleur.

Die Chancen, die für den Westen und vor allem die Europäer in einer weitgehend demokratisierten und mit rechtsstaatlichen Strukturen versehenen arabischen Welt liegen, sind zu viel groß, um sie aufgrund eines wohlfeilen, islamkritisch befeuerten Skeptizismus oder kurzsichtiger Ängste um den Ölpreis zu verspielen. Nutzen wir diese Chancen nicht und zaudern, den arabischen Aufbruch in die Vernunft ideell und materiell zu fördern, riskieren wir das Scheitern oder Abdriften der Revolutionen, bevor der Wandel unumkehrbar ist. Weitere Jahrzehnte weltpolitischer Depression und ideologischer Verhärtung wären die Folge. Und das kann niemand wollen, so unterschiedlich die Meinungen auch sind und bleiben werden.