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Casa 4_3© Calle Claus (Ausschnitt)

Stefan Mesch über "Casablanca"
Bilder wie bunte Bodenkacheln


Wie viele Orte kannst du festhalten: darstellen? Wem könntest du welchen Ort erklären – in einem Vortrag? In kurzen Adjektiven? Besser in einer Fotosammlung? Kannst du sichtbar machen, was die Küche, den Garten deiner Kindheit ausmacht? Schulwege? Den ersten eigenen Urlaub? In welchem Medium: als Text, Liste? Mit Abmessungen und Zahlen? Ist Fotografie der "objektivste" Weg? Details, Stimmungen. Irritationen. Gewöhnlichkeiten, Typisches. Dinge, die man sofort sieht. Und Dinge, die nur du so sieht: Psychogeografie.

Der Illustrator und Comiczeichner Calle Claus zeigt Casablanca – die größte Stadt Marokkos. Auf Einladung des Goethe-Instituts reist er im Oktober 2013 als Teil des Projekts Comic Transfer mit dem spanischen Zeichner Francisco Peña. Calles "Casablanca"-Comic hat fünf Seiten, 22 Panels. Eine Stippvisite in drei kurzen Episoden: ein Spaziergang durch die Altstadt, eine Taxifahrt, dann Eindrücke, Vielfalt rund um Moschee und Uferpromenade.

Reist meine Schwester, Mitte 20, sucht sie vorher durch Food- und Influencer*innen-Hashtags auf Instagram: Sie glaubt den Tipps, Empfehlungen ihrer Alterskohorte; will das sehen, was Leute, die ihr ähnlich sind, "sehenswert" nennen. Letzte Woche las ich "Morocco": eine Kurzgeschichte von John Updike, 1979. Jetzt weiß ich zufällig: Im April ist Restinga meist zu windig für Strandurlaub. Agadir wurde 1960 von einem Erdbeben nahezu zerstört. Und: "Casablanca didn't look at all like in the movie." Ist das alles: Schnappschüsse? Splitter, Hashtags?

Auch Calle Claus' "Casablanca" zeigt Fragmente: Ich sehe verschleierte Frauen neben unverschleierten. Einen Popcorn-Verkäufer am Strand. Angler auf Klappstühlen. Claus nennt die Stadt ein u.a. "streng riechendes" und "rätselhaftes" "Wimmelbild". Ein Foto vor der Moschee soll ihm helfen, möglichst viele Facebook-Likes zu sammeln. Der Taxifahrer prahlt damit, Touristen das Fünffache des Preis' abzuknöpfen, das er Einheimischen berechnet. Ist das alles?

Nein. Zeichnungen stilisieren: Sie lassen weg, begrenzen aufs Wesentliche. Sie zeigen, was gezeigt werden muss, um Wesen, Atmosphäre zu verstehen. Darum hat, wer zeichnen kann, eine Verantwortung, sobald er Kulturen und Menschen "dokumentiert": Nichts ist objektiv. Jeder Strich ist eine Gewichtung.

Ich freue mich, dass Claus sich an keiner Stelle zum Marokko-Experten aufspielt: Sein Satz "Rund um die Moschee und ihren Innenhof herrscht lebhaftes, entspanntes Treiben" spielt, in aller Abgegriffenheit, Phrasenhaftigkeit, mit offenen Karten. Hier schaut kein Insider, Alleswisser: Der Deutsche hält Eindrücke und Farben fest – kraftvoll, optimistisch, leuchtend, sonnig, energisch. "One Step inside doesn't mean you understand" - und Claus' bewusst naiv-gutmütig-kinderbuchhafter Stil (dicke Filzstifte, simple Figuren mit fröhlichem Blick) gibt nicht vor, er würde viel verstehen:

Ein kleines Panel ohne Textblasen und Schrift zeigt den Kopf eines pinken Krokodils, das entweder aus dem Pflaster bricht oder von Pflastersteinen begraben wird. Ich google "Pink Crocodile Casablanca" und "Alligator Sculpture Medina Casablanca" – doch finde nichts. Ich glaube, wir sollen hier genau so viel verstehen und sehen wie Claus selbst. Ein Fundstück, eine Irritation beim Bummel durch die Stadt, das sich nicht selbst erklärt... und das uns Claus deshalb nicht weiter erklären kann.

Reise ich an neue Orte, öffne ich zuvor vier Websites. In der "Useful Notes: Morocco"-Section des "TV Tropes"-Wiki werde ich u.a. neugierig auf das Gefängnis Tazmamart, den Sean-Connery-Film "The Wind and the Lion" und Brian Jones' Album "The Pipes of Pan at Jajouka". Auf Goodreads wird mir Marokko-Literatur von Paul Bowles, Lawrence Osborne und Ernst Jünger empfohlen - und, interessanter: von Mahi Binebine, Tahar Ben Jelloun, Couki M. Hamel.

Die Internet Movie Database empfiehlt "Angst essen Seele auf" (ein marokkanischer Gastarbeiter in München), das Drama "Casanegra", den Horrorfilm "Kandisha" und die Netflix-Serie "Morocco: Love in Times of War". Reddit empfiehlt einen Spaziergang von der Moschee bis zum Leuchtturm; und folgendes Video.

Ich denke an "Mad Men" und die Zeit, als Tourismus noch vor allem mit bunten Zeichnungen, Stilisierungen warb statt mit Fotos. Ich denke an Miroslav Šašek, der von 1959 bis 1980 scheinbar simple Reise-Bilderbücher veröffentlichte, "This is Paris", "This is Munich", und der nie beauftragt wurde, ein Buch über afrikanische Metropolen oder Nationen zu füllen.

Kann Calle Claus sichtbar machen, was Casablanca ausmacht? Details, Stimmungen. Irritationen. Gewöhnlichkeiten, Typisches. Dinge, die man sofort sieht. Und Dinge, die nur er so sieht: Psychogeografie? Die Leistung, der Reiz des "Casablanca"-Comics liegt für mich nicht darin, wie "objektiv" hier etwas "eingefangen", gewichtet wird. Sondern darin, wie deutlich Calle zeigt: Hier sammelt und urteilt ("streng riechend", als Urteil über eine ganze Stadt?!) ein Fremder.

Verkürzungen, Rassismen sind in Comics schneller, deutlicher zu sehen als auf "objektiven" Fotos. Mir zeigt Calles gutmütiger Kinder-Stil: Hier blickt kein Zeichner von oben herab auf eine Stadt, die er aufs Kindische reduziert. Claus' Bilder sagen: "Ich bin fremd. Staune wie ein Kind. Teile meinen allerersten, oberflächlichen Blick. Und verlege Bilder wie bunte Bodenkacheln, Fliesen: farbenfroh, ornamental, (notgedrungen) flach."

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