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 © Sebastian Lörscher (detail)

Jonas Engelmann über "Nowosibirsk"
Festival junger Subkulturen

Der Berliner Comiczeichner Sebastian Lörscher sucht in Nowosibirsk nach der jungen Kunstszene, wühlt mit einer Genderforscherin im Müll und findet Militärs auf einem Subkulturfestival.

„Du hast ja gar nichts von dem Stück mitbekommen, wenn Du die ganze Zeit gezeichnet hast!“, bekommt der Zeichner Sebastian Lörscher während einer Aufführung von Tschaikowskis „Schwanensee“ im Theater von Nowosibirsk von seiner Sitznachbarin zu hören. „Doch das Gegenteil ist der Fall“, erklärt er den Lesern seiner Reiseerinnerungen aus der drittgrößten Stadt Russlands, „wenn ich zeichne, sehe ich viel genauer hin, als wenn ich nur ruhig dasitze. Als ich auf dem roten Teppich in die Nowosibirsker Nacht gehe, habe ich den Eindruck, noch nie einer Tanzaufführung so aufmerksam zugesehen zu haben.“

Schwanensee

Nowosibirsk ist eine junge Stadt, gegründet 1893 als Teil des staatlichen Projekts, Sibirien besser zu erschließen. Die Transsibirische Eisenbahn führt durch Nowosibirsk und die Siedlungen für die am Bau beteiligten Arbeiter waren der Ausgangspunkt der Stadtgründung. Heute hat Nowosibirsk über eineinhalb Millionen Einwohner. Zum 125. Jubiläum war Sebastian Lörscher für eine Woche vom Goethe-Institut eingeladen, über den Alltag und die Kunstszene zu berichten. Eine Millionenstadt wie Nowosibirsk als Besucher in nur einer Woche zu erfassen, ist unmöglich, und so beschränkt sich Sebastian Lörscher auf kleine Begebenheiten und Begegnungen, aus denen zusammen sich ein größeres Bild des Lebens in der Stadt bildet.

Zunächst trifft er sich mit jungen Künstlerinnen und Künstlern, die über die Kunstszene der Stadt berichten, bzw. davon, wie schwierig die Situation für junge Kunst in der Stadt ist. Lörscher lässt unterschiedliche Stimmen nebeneinander stehen, aus denen die Ambivalenz deutlich wird, weitab des russischen Zentrums Moskau künstlerisch aktiv zu sein.

„Ich mag das Nirgendwo“

Anton erklärt etwa: „Wir sind mitten im Zentrum der Stadt und zahlen fast nichts. Das ist eines dieser wunderbaren Dinge an Nowosibirsk! In Moskau hätte ich jeden Tag Sorgen wie ich meine hohe Miete bezahlen soll. Hier habe ich viel Freizeit, kann meine Träume verfolgen und mich voll auf meine Projekte konzentrieren. Wo hat man das schon?“ Für diese Freiheit ist er auch bereit im Nirgendwo Sibiriens zu leben: „Ich mag das Nirgendwo. Im Nirgendwo hast Du viele Möglichkeiten, im Nirgendwo hast Du den Raum etwas Neues entstehen zu lassen. Und ich würde sagen: Das Nirgendwo ist auf unserer Seite!“

Pjotr, Kurator am Novosibirsk Centre for Visual Arts, ist zurückhaltender und weist vor allem auf die hinter der Kunstwelt stehende bürokratische Struktur hin: „Wenn man neu in eine solche Institution kommt, bekommt man normalerweise man eine Liste von irgendeiner höheren Persönlichkeit vorgesetzt, auf der steht, was man zu tun und auszustellen hat. Wir können jetzt nicht plötzlich einen Müllberg hier aufschütten und sagen, dass das Kunst ist. Es sollte Schritt für Schritt gehen, wir möchten die Leute langsam für Neues sensibilisieren.“

Begleitend zu den Statements der Künstlerinnen und Künstler skizziert Sebastian Lörscher deren Kunstwerke, von denen viele auf die Provokation der verkrusteten Strukturen abzielen: Man sieht Pikachus mit Leninkopf, halbnackte Männer vor dem Kreml oder sowjetische Symbolik in Toiletten. Die Zeichnungen Lörschers sind wie bereits in seinem Reisebuch „Making Friends in Bangalore“ dominiert von skizzenhaften Strichen, leichten Farbgebungen mit Bunt- und Filzstiften, die Akzente setzen. Dies wird insbesondere deutlich in der zweiten Episode, die Lörscher präsentiert: seinem Besuch auf einem Festival junger Subkulturen in Nowosibirsk. Das Nebeneinander von westlicher Popkultur und russischer Realität fängt der Zeichner in fast schon abstrakt-expressionistischen Zeichnungen ein. Cosplayer, Gothics, Weltraumsuperhelden und russischer Techno treffen auf die martialische Präsenz des Militärs: „Inmitten des bunten Trubels posieren gutgelaunte Soldaten für Selfies, zeigen wie man Maschinengewehre auseinanderbaut und werben mit Schießständen und Messerkampfspielen für das russische Militär.“

Abfall für alle

Besonders prägnant ist Lörschers Begegnung mit der Philosophin, Genderforscherin und Soziologin Tatjana, die als „Müll-Aktivistin“ eingeführt wird. Sie erklärt: „Mich interessieren die Geschichten, die im Müll stecken! Und mit dem, was die Leute so auf die Straße stellen, erzählen sie mir praktisch ihr komplettes Leben, ihre Denkweisen und Einstellungen. Ich bin so fasziniert daran, zu verstehen, wie unsere Gesellschaft funktioniert. In ihrem Müll erfahre ich alles!“ Tatjanas Blick auf die russische Gesellschaft ist ein Spiegel des Blickes, den der Comiczeichner auf das Land wirft: Man muss dahin blicken, was andere als unwichtig abtun, sich über Konventionen hinwegsetzen und kann so aus dem Unrat der Anderen Geschichten freilegen, die Aufschluss geben über eine Stadt, ein Land, eine Gesellschaft.

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