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 © Gregor Hinz (Ausschnitt)

David Schmidt im Gespräch über "Saint-Victor-sur-Rhins"
Die Spitze des Eisbergs: Auf Reisen mit Gregor Hinz


Gregor Hinz’ Reisebericht “Saint-Victor-sur-Rhins” wirkt beim ersten Lesen chaotisch. Doch wer sich mit Gregor auf Reisen begibt, wird sich mit seinen poetischen Bildergeschichten garantiert amüsieren. Ein Gespräch.
 
“Dann mach ich die Haare mal noch gut.” (Gregor)
“Die Corona-Frise richten.” (Ich)
“Mein Papa hat neulich noch geschnitten.”
“Dein Papa schneidet dir deine Haare?”
“Das hat der früher immer und seit zehn Jahren nicht mehr gemacht, und jetzt geht’s aber wieder los. Der wohnt in Berlin. Du kannst sagen, wenn du mal einen Termin haben willst.”
“Ist der wirklich Friseur?”
“Nein, der ist Immobilienmakler. Aber der kann’s. Früher musste man ja alles können.”
“Ja. Heute wieder, eigentlich.”
“Das stimmt.”
“Hast du dir ein Bier mitgebracht?”
“Nee, aber ich hab hier so Alternativen, und zwar ist das hier so ein Baileys-Verschnitt, und wir haben Quitten-Schnaps neulich geschenkt bekommen. Aber damit geht’s schneller.”
“Und die Kinder sind im Bett?”
“Nein. Aber jetzt ist mein Teil getan.”
“Wie alt sind sie denn?”
“Die sind zwei und fünf. Und du hast ne Katze?”
“Ich hab ne Katze, die ist genauso alt.”
“Zwei und fünf?”
“Dazwischen.”

 
So beginnt mein Interview mit Gregor Hinz, das ich geführt habe, um diesen Text zu verfassen. Unser Dialog fühlt sich an wie aus einer seiner Geschichten: Wir assoziieren frei, ich stelle eine Frage, Gregor reagiert, stellt eine Gegenfrage und ehe wir uns versehen, ist der rote Faden gerissen. Wir witzeln, grübeln, suchen, finden, wie zwei Reisende, die sich durch unbekanntes Gelände bewegen, ohne zu wissen, wohin der Weg führt. 
 
Gregor Hinz Weg begann 1982 in Rostock, seine Kindheit verbrachte er aber im Berlin der DDR. Auch nach der Wende lebte Gregor noch lange im östlichen Teil der Stadt. Trifft er auf Menschen mit ähnlicher Biografie, fühlt er sich ihnen verbunden, kann aber nicht genau sagen, warum eigentlich. Einer dieser für Gregor wichtigen Menschen ist Franziska Ludwig, mit der er das 2017 im JaJa-Verlag erschienene Comic-Buch “Eisberge” veröffentlicht hat. Auch die Zeitschrift Pure Fruit verbindet die beiden, ein paar Jahre lang war Franziska Mitherausgeberin, doch im vergangenen Jahr zog sie sich aus dem Projekt zurück. Das grämt ihn.

“Es geht darum, beim Erzählen Lücken zu lassen, den Leser zu fordern” 

“Eisberge” ist ein Reisebericht, Gregor und Franziska reisen darin durch Deutschland. Wohin und warum verraten sie nicht. Während der Autofahrt verlieren sich beide in Fantasien, Wortspielen und fragmentarischen kleinen Erzählungen. Auf den ersten Blick wirkt das chaotisch, auf den zweiten zeigt sich, dass das Chaos Methode hat. Auf Seite 44 findet sich ein aufschlussreiches Gespräch:
 
“Hemingway ist ja Schriftsteller.” (Gregor)
“War Schriftsteller.” (Franziska)
“War Schriftsteller. Der hatte eine Theorie, die passt gerade ganz gut. DIE EISBERGTHEORIE. Also das hat mir meine Freundin erzählt. Ich glaube, da ging es tatsächlich um Kurzgeschichten, aber egal. Es geht darum, beim Erzählen Lücken zu lassen, den Leser zu fordern. Das fand ich super. Finde ich super. Das ist so ein schöner poetischer Ansatz. Man erzählt eine Geschichte, aber eben nur die Spitze des Eisbergs und die restliche Geschichte muss sich der Leser selber denken. Das heißt, den Teil unter Wasser denkt sich der Autor zwar aus, und das ist wichtig, dass der weiß, wie der Eisberg unter Wasser aussieht, aber er schreibt ihn nicht explizit auf. Da passiert dann noch voll viel im Kopf. Und es muss auch nicht unbedingt das beim Leser ankommen, um was es dem Autor ging. Das ist gut. Auch ein toller Name für die Theorie. Seitdem wollte ich mal was von Hemingway lesen, habe es aber noch nicht geschafft. Na, und da kam ich gerade bei deiner Meerjungfrau drauf.”
“Der alte Mann und das Meer?” 
“Nein, ich meine diese Meerjungfrau, von der du gerade erzählt hast.” 
“Nein, ob du Der alte Mann und das Meer noch nicht gelesen hast?” 
“Ach so. Doch doch. Aber das ist ja keine Kurzgeschichte.” 
“Verstehe. Das in meiner Geschichte war aber keine Meerjungfrau, sondern eine Galionsfigur.”
“Galionsfiguren sind oft Meerjungfrauen.”
“Stimmt.”

Vorstudie: In Begleitung durch Frankreich

Der Text war für mich der Schlüssel zu Gregors im Rahmen des Comic Transfers erschienenem Beitrag “Saint-Victor-sur-Rhins”. Saint-Victor-sur-Rhins ist der Name einer kleinen Gemeinde in Frankreich und liegt, wie der Name schon sagt, am Rhins. 2014 verbrachte Gregor hier mehrere Wochen, in denen er Comic-Workshops anbot, die Region kennenlernte und seine Eindrücke auf dem Papier festhielt. In dem dabei entstandenen Comic sehen wir ihn in Begleitung durch Frankreich reisen. 
 
Fünf Seiten zeigen fünf verschiedene, mit Filzstift gemalte Szenen aus dieser Zeit. In einer besteigen Gregor und seine Begleitung den St. Victore. Während des Aufstiegs der beiden bricht die Dämmerung ein, und sie müssen umkehren, obwohl sie den Gipfel noch nicht erreicht haben. “Man muss früher aufstehen, um da hoch zu kommen”, notiert Gregor unter der Bildergeschichte. Nächste Seite: Wir sehen Saint-Victor-sur-Rhins durch eine unsichtbaren Grenze in zwei geteilt. Überschreitet man sie, wird aus dem Rhins auf einmal der Rheins. Die übrigen Seiten zeigen eine nächtliche Fahrt durch die Berge und Gregor auf einem seiner Zeichen-Workshops für Schüler*innen. 
 
Für sich allein betrachtet scheinen die 2014 entstandenen Text-Bild-Collagen wie eine lose Aneinanderkettung von Reiseeindrücken: Der fehlende Spannungsbogen lässt sie fast absichtslos wirken. Bei der ersten Lektüre ließ mich “Saint-Victor-sur-Rhins” ratlos zurück. Das änderte sich, nachdem ich “Eisberge” las. Denn Gregors kurzer Frankreich-Comic liest sich dazu wie eine Vorstudie. 
 
Auch die “Eisberge” sind eine Sammlung scheinbar zusammenhangloser Geschichten, die die Reise zweier Protagonist*innen rahmt. Aber was in “Saint-Victor-sur-Rhins” vielleicht noch nicht funktionierte, entfaltet hier eine spannende Eigendynamik: Plötzlich meint man, über Gregor und Franziska mehr zu erfahren, als da eigentlich steht. Mühelos tänzeln sie miteinander von einem guten Einfall zum nächsten. Das mitzuerleben macht so viel Spaß, dass ich mit Bedauern die letzte Seite aufschlage. Das fühlt sich an, als säße ich während der Reise der beiden auf der Rückbank in ihrem Auto, als wäre ich selber auf Reisen.

Als säße ich während der Reise der beiden auf der Rückbank in ihrem Auto, als wäre ich selber auf Reisen 

Doch wer Gregor Hinz noch besser kennen lernen möchte, muss mit ihm die Rückreise zu ihm nach Hause antreten. Und sein Zuhause ist inzwischen nicht mehr Berlin, sondern Kiel. Noch lange vor der Geburt seiner Kinder hat er hier, an der Ostsee, ein anderes Baby zur Welt gebracht: die Zeitschrift Pure Fruit.
 
Von Pure Fruit sind inzwischen einundzwanzig Nummern erschienen, das Heft gibt es kostenlos online oder im Print. In die Welt kam die Idee zu der Comic-Zeitschrift dank eines Gratis-Comic-Tages vor zehn Jahren. Gregor war gerade mit seiner Freundin nach Kiel gezogen. Kiel hatte trotz des Gratis-Mottos ein paar Stände erlaubt, an denen es Comics zu kaufen gab. An einem davon traf Gregor auf einen anderen Zeichner, über den er später weitere kennenlernte. Plötzlich war Gregor Teil einer Gruppe von Künstler*innen, die alle Lust darauf hatten, ein Projekt anzuschieben. Das Ergebnis davon ist die Zeitschrift Pure Fruit. 
 
Ganz im Geiste des Gratis-Comic-Tages, der Pure Fruit ins Dasein verholfen hat, müssen die Leser*innen für eine Ausgabe nichts bezahlen. Jedes Heft stellt eine Vielzahl von Comics und Zeichnungen vor. Finanziert wird das ganze mithilfe von Werbeanzeigen. Die Einnahmen reichen, um den Druck und Vertrieb abzudecken. Hin und wieder gibt eine Stiftung wie die Stiftung Naturschutz oder die Arche Warder eine Sondernummer in Auftrag. 
 
Dass die Pure Fruit in Zeiten der Printmedienkrise überhaupt existieren kann, liegt natürlich zuallererst an der Leidenschaft derer, die sie herausgeben: Denn gewöhnlich verdienen Gregor & Co. daran nichts. Aber auch Kiel, der Ort, an dem die Pure Fruit entsteht, spielt eine Rolle. In Berlin ist man als Künstler*in eine*r von vielen. Kulturelle Angebote gibt es in der Hauptstadt so viele, dass die Wertschätzung dafür geringer als anderswo ist. In kleineren Orten wie Kiel ist das Interesse an selbstgemachter Kultur größer, ein Projekt aufzuziehen leichter. “Ich glaube, in Kiel zu sitzen, das ist schon auch unser Vorteil”, stimmt Gregor meinen Überlegungen zu. “Auch, dass wir Anzeigenkunden bekommen. Das würde in Berlin ganz sicher nicht klappen.” Dass er nach Kiel zog, hatte aber einen anderen Grund: 
 
“Meine Freundin kommt nicht aus Berlin und fand, dass es stank, und laut ist, und stressig.” (Gregor)
“Da hat sie nicht Unrecht.” (Ich)
“Hat sie nicht. Es gab dann auch irgendwann mal so ne Geschichte von einer terroristischen Zelle, die gesagt hat: Überall kann dir etwas passieren, außer in Kiel. Also, zumindest von deren Seite. Ich hab’s leider nie wiedergefunden, ich weiß nicht, vielleicht haben wir uns das nur eingebildet. Also stimmt vielleicht gar nicht.”
“Also hat euch die Terrorangst nach Kiel getrieben.”
“Ja! Genau.”
 
Unser Gespräch wendet sich wieder dem Reisen zu. Sein liebstes Reiseland? Da muss Gregor lange überlegen. “Hab ich nicht”, sagt er endlich. “Ich hab beim Überlegen geschwankt zwischen Deutschland, Norwegen und Finnland. Aber eigentlich ist es wumpe, wohin man reist. Es ist einfach schön, woanders zu sein. Deshalb reicht Deutschland voll. Ich reise ja auch am liebsten mit dem Fahrrad, und da kommt man dann auch nicht weit.” Interkontinentalreisen kommen für Gregor aufgrund des Klimawandels nicht mehr in Frage. Vor Reisen nach Südamerika oder Afrika hätte er sowieso Angst: “Ich denke immer, da sind dann irgendwelche Spinnen, die mich beißen, und dann ist’s vorbei.” 
 

“Eigentlich ist es wumpe, wohin man reist. Es ist einfach schön, woanders zu sein” 

Das Reisen war schon in Gregors erster größeren Publikation das Hauptthema: Mit dem Text-Bild-Reisebericht Es war, als würde ich nur kurz zum See fahren hat er 2008 in Berlin sein Diplom in Kommunikationsdesign abgeschlossen. Es gab eine Zeit, in der hat sich Gregor vorgestellt, seine Arbeit und das Reisen dauerhaft zu verbinden. Weil er, wie er sagt, ohne Druck nicht arbeiten könne, wurde leider nichts daraus. Heute lebt Gregor von seiner Arbeit als Illustrator, aber mit vielen seiner Projekte verdient er kein Geld. “Meine Ehe ist umgekehrt konventionell”, erklärt er mir, “meine Frau holt die Knete ran, und ich bin der Künstler.”
 
Wie wir so reden, wird es später und später. Die Sonne ist vor Stunden untergegangen, auf den Straßen regt sich nichts mehr. Wir sprechen über Corona und sind uns einig, dass der Lockdown notwendig, aber schwer zu ertragen ist. Gregor sagt, er müsse gerade sehr darauf achten, wie es ihm geht. Dabei helfe es ihm, dass er gut darin sei, sich selber zu manipulieren. In seinem neusten Projekt wandern zwei gemalte Figuren durch fotografierte Landschaften, es geht um Motivation. “Das war so ein Corona-Projekt, wo ich mich so ein bisschen unmotiviert gefühlt habe, und da hab ich gedacht, da muss ich mal was machen. Für mich, aber auch für andere.” Gregor wünscht sich, dass wir aus der Pandemie lernen, uns gegen den Klimawandel genauso entschieden zu stellen. 
 
Wie er überhaupt zum Zeichnen gekommen ist, das weiß Gregor nicht mehr genau. Das sei ihm einfach passiert. Geschichten habe er schon immer gerne erzählt. Und das Comic-Zeichnen habe den Vorzug, dass die Szene dafür in Deutschland so klein ist. Das mache es leichter, mit seiner Arbeit gesehen zu werden. Ob es Gregor ein Anliegen ist, die Kunst des Comic-Zeichnens aus der Nische zu heben? “Nicht so explizit”, sagt Gregor, und leert ein Glas Schokoladenlikör. Klassische Comics fände er gar nicht so interessant. Viel spannender seien experimentelle, poetische Bildergeschichten, wie die von Brecht Evens und Mawil.

Kindliche Reisen in eine wuchernde Fantasie

Auch wenn Gregor in seinen Arbeiten immer wieder Neues probiert: Seinen ganz eigenen, wiedererkennbaren Stil hat er trotzdem. Seine Figuren und die Welten, in denen sie leben, sind im besten, und zwar allerbesten Sinne kindlich, nämlich träumerisch und verspielt. Das ist keineswegs simpel, sondern angenehm lebensbejahend und auf diese Weise poetisch. Seine Geschichten sind Reisen in eine wuchernde Fantasie, die er mit Augenzwinkern und Eigensinn über die Wirklichkeit legt. Früher habe er für seinen Stil oft Kommentare gehört, die ihm Stiche versetzten, wie: “Ach, wie süß”, oder “Das kann mein Kind aber auch.” Heute habe er zumindest das Süßsein überwunden, sagt Gregor. Aber zu akzeptieren, dass das Kindliche seiner Arbeiten in Wirklichkeit eine Stärke ist, das fällt ihm immer noch schwer. 
 
Oder sagen wir so: Als Zeichner ist Gregor noch auf der Reise, und will es nicht anders. Wo sie mal endet, das weiß er noch nicht. Sicher ist aber eins: Was wir heute von Gregor auf dem Papier sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs.

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