Halaqat
Ein Doppelinterview zwischen zwei Ufern
Ziel des Halaqat-Projekts ist es, Brücken zwischen der arabischen Welt und Europa zu schlagen. Wir haben Elena Polivtseva, die in Belgien lebt, und Shiran Ben Abderrazak, der in Tunesien zuhause ist, interviewt. Beide arbeiten für eine kulturelle Einrichtung. Wie haben sie in ihrem jeweiligen Land die COVID-19-Pandemie erlebt und wie sieht ihre Tätigkeit nach der Pandemie aus?
Von Lotte Poté (Bozar)
Welche Funktion haben Sie in Ihrer Organisation inne?
Elena Polivtseva: Beim IETM bin ich für die den politischen Bereich des Netzwerks zuständig. Das bedeutet, dass ich die Interessen des Netzwerks vertrete und dabei der politischen Entwicklung sowie den einschlägigen Entwicklungen auf europäischer, nationaler und weltweiter Ebene Rechnung trage.
Shiran Ben Abderrazak: Ich bin Geschäftsführer einer privaten philanthropischen Einrichtung, der Rambourg-Stiftung, die Büros in drei Ländern hat: in Frankreich, im Vereinigten Königreich und in Tunesien. Wir organisieren zahlreiche unterstützende Aktivitäten wie Studien, die für Kreativ- und Kulturunternehmer von Nutzen sein können.
Wie ist es Ihnen in Ihrem Land während der COVID-Pandemie ergangen?
Shiran: In Tunesien war die Situation recht merkwürdig. Wir hatten, wie in allen anderen Ländern auch, einen ersten, dreimonatigen Lockdown. Danach konnte die Regierung keine strengen einschränkenden Maßnahmen wie einen Lockdown mehr auferlegen. Bis zum Frühsommer 2021 spitzte sich die Lage in Tunesien dramatisch zu. Danach erhielten wir viel internationale Hilfe und große Mengen an Impfstoffen, auf die wir zuvor vergeblich gewartet hatten. Mittlerweile dürfte mehr als die Hälfte der Bevölkerung geimpft sein, sodass wir jetzt wohl sagen können, dass wir uns in der ‚Post-COVID‘-Phase befinden.
Und wie war diese Zeit speziell für Ihre Einrichtung? Wie ist sie mit der Pandemie zurechtgekommen?
Shiran: Für die privaten Akteure der Kulturbranche war diese Zeit ziemlich schlimm. Aufgrund der vom Staat auferlegten Maßnahmen mussten sie auf alle künstlerischen Aktivitäten verzichten. Unserem öffentlichen Sektor, der vom Staat unterstützt und finanziert wird, ging es hingegen relativ gut. Das Budget für den kulturellen Bereich ist in Tunesien zwar nicht sehr hoch, aber zumindest konnten die Kulturschaffenden ihre Arbeit fortsetzen. Wir als philanthropische Einrichtung mussten unsere Aktivitäten nicht einstellen. Wir haben zahlreiche Kooperationsprogramme und -projekte entwickelt, da eines unserer vorrangigen Ziele darin besteht, zwischen Tunesien und der restlichen Welt, und vor allem Europa, Brücken zu schlagen. Unsere Arbeit wurde wegen der Reisebeschränkungen jedoch komplizierter und schwieriger, und wir mussten neue Wege finden, um unsere Projekte aus der Ferne zu steuern.
Elena: Für mich bestand die größte Herausforderung darin, wieder auf lokaler Ebene aktiv zu sein. Inspirationen und Ideen für Projekte, und auch Lösungen für die aktuelle Situation, konnte man im wahrsten Sinne des Wortes nur um die Ecke finden. Auf der einen Seite fanden dies einige Mitglieder unseres Netzwerks von Interesse, denn es wurden überall lokale Szenen mobilisiert. Auf der anderen Seite mussten wir bei Zusammenkünften eine Dynamik beobachten, die darin bestand, dass es an gegenseitigem Verständnis oder sogar Interesse für diese eher transnationale Ebene fehlte.
Und welche Lösung gab es für dieses Problem und die COVID-Lage im Allgemeinen?
Elena: Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir bei unseren künftigen Aktivitäten stets dafür sorgen müssen, dass die Menschen mehr über die Gegebenheiten an anderen Orten erfahren. Deshalb suchen wir in unserem Netzwerk nach konkreten Projekten, die Menschen dabei unterstützen könnten, einerseits lokal zu handeln, aber andererseits auch mit anderen über deren jeweilige Situation vor Ort zu sprechen und voneinander zu lernen. Wichtig ist dabei, wie eine Zusammenarbeit auf internationaler Ebene aussehen kann. Themen sind aber nicht nur die Pandemie, sondern zum Beispiel auch die Umwelt und der Kolonialismus. Generell fiel es größeren Einrichtungen schwerer, sich an die Situation anzupassen. Manche mussten sogar schließen, da es einfach nicht möglich war, ständig alle Änderungen zu berücksichtigen. Kleinere Unternehmen, Produzenten und freischaffende Künstler konnten ihre Aktivitäten dagegen fortführen, wenn sie Unterstützung erhielten. Es haben also nicht nur die Kleinsten unter der Situation gelitten. Im Weiteren kam die Hoffnung auf, dass sich im Kultursektor ein Gleichgewicht einstellen würde, wenn die Vulnerabilitäten des jeweils anderen bekannt sind.
Und wie sieht die Zeit nach der COVID-Krise in Belgien und Tunesien heute aus?
Elena: Es ist noch zu früh, um diese Situation als "post-Covid" zu bezeichnen, und es ist auch noch zu früh, um die Auswirkungen der Pandemie abzuschätzen. Wir wissen noch nicht, wie viele Kunstorganisationen aufgehört haben zu existieren, wie viele Unternehmen kurz vor der Schließung stehen und wie viele künstlerische Laufbahnen vor dem Aus stehen. Wir wissen auch nicht genau, wie sich die kulturpolitischen Prioritäten bei der Finanzierung verändert haben.
Shiran: Genau! Auch ich muss sagen, dass die Post-Covid-Lage in Tunesien, was den kulturellen Bereich anbelangt, sehr unklar ist. Wir verfügen über keinerlei Daten. Alles, was ich gesagt habe, beruht auf meinen Erfahrungen und Einschätzungen oder darauf, was ich von Dritten gehört habe. Was wir jetzt brauchen, sind Zeit und Fakten.
Eine abschließende Frage: Wie können Europa und die arabische Welt Ihrer Meinung nach in dieser Post-COVID-Zeit Brücken schlagen?
Elena: Hier möchte ich noch einmal auf das am Anfang dieses Interviews Gesagte zurückkommen. Meiner Ansicht nach müssen wir ein Bewusstsein für die Situation unseres Gegenübers schaffen, und wir müssen uns wirklich für die lokale Perspektive interessieren. Zum Beispiel können Menschen, die in Europa leben, aber ursprünglich aus anderen Regionen kommen, den Grundstein für einen großartigen lokalen Austausch legen, da sie Verbindungen zu anderen Orten haben. Allgemein benötigen wir auch mehr Forschung, mehr Zeit und mehr Fairness. Die Frage, wie diese Brücken geschlagen werden können, ist jedoch weiterhin offen. Ich möchte abschließend sagen, dass sich nach COVID nur etwas ändern wird, wenn sehr ernsthafte, strukturierte und kollektive Anstrengungen unternommen werden.
Shiran: Meiner Meinung nach ist die Entwicklung von Halaqat ein erster, guter Schritt in die richtige Richtung. Es handelt sich dabei um eine Art Projekt und Programm, das den Dialog zwischen Gleichgesinnten über wichtige Fragen eröffnet. Aber wie werden wir dieses Projekt konkret umsetzen können? Eines der größten Probleme, das für das weiterhin bestehende Unverständnis zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers verantwortlich ist, ist das Problem der Mobilität. Wenn man Brücken schlägt, dann müssen Menschen sich auf diesen Brücken auch fortbewegen können. Ansonsten weiß ich nicht, was für einen Sinn eine Brücke überhaupt hat. Der Kultursektor spielt dabei eine sehr wichtige Rolle, denn gerade hier werden Narrative geschaffen und entwickelt. Wenn diese Narrative in Gesellschaft und Bevölkerung eingebracht und dort genutzt werden, können sie viel bewirken. Mit ihnen können wir beginnen, unsere Vorstellung von der Welt zu verändern.
Elena Polivtseva lebt in Brüssel. Sie ist Leiterin für Politik und Forschung beim Internationalen Netzwerk für zeitgenössische darstellende Kunst (IETM), einem der ältesten und größten internationalen Kulturnetzwerke, das als Sprachrohr für weltweit über 500 Mitgliedsorganisationen und Freischaffende aus dem Bereich der zeitgenössischen darstellenden Kunst fungiert.
Shiran Ben Abderrazak, der in der tunesischen Hauptstadt Tunis lebt und arbeitet, ist seit 2018 als Geschäftsführer bei der Rambourg-Stiftung, einem der wichtigsten Akteure der tunesischen Kreativwirtschaft, tätig. Ziel der Rambourg-Stiftung ist es, Tunesien den Weg zu einer regionalen Kulturdrehscheibe zu ebnen, indem sie auf gerechte, partizipative und nachhaltige Weise zur Entwicklung des Ökosystems der tunesischen Kreativ- und Kulturwirtschaft beiträgt.