Tom Bonte im Gespräch
Das Goethe-Institut in Brüssel stemmt das Freiraum-Projekt zusammen mit dem Kunstzentrum Beursschouwburg. Dessen Leiter, Tom Bonte, freut sich auf die Zusammenarbeit. Im Gespräch redet er über die ganz besondere räumliche Freiheit eines Kunstzentrums, die sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen von Brüssel und die besorgniserregende Situation in Europa, die Sich-Einfühlen und Miteinander-Reden mehr als notwendig macht.
Ein Interview von Uwe Rada
Was haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal vom Freiraum-Projekt gehört haben?
Das Projekt mag etwas artifiziell klingen, aber im Kern geht es um einen interessanten Gedanken: Ist es uns möglich, uns mit Themen in anderen europäischen Städten zu beschäftigen, können wir mit anderen Städten zusammenarbeiten und solidarisch sein, auch wenn uns ein bestimmter Aspekt, auf den ersten Blick, nicht so sehr zu interessieren scheint?
Was bedeutet der Begriff „Freiraum“ für Sie persönlich?
Ein Freiraum ist für mich nicht automatisch ein Ort, wo ich tun und lassen kann, was ich will. Freiheit endet dort, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Ein Freiraum ist also nichts Gegebenes, wir müssen ihn aktiv gestalten und als Bürgerinnen und Bürger auch dafür sorgen, dass andere von dieser Freiheit profitieren können. Menschen mit weniger Geld, mit weniger Bildung und anderen Fähigkeiten haben in der Theorie die gleichen Freiheiten wie alle. Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie diese auch in derselben Art und Weise nutzen können, wie ich es kann. Zunächst ist Freiheit also nur ein Wort. Damit es für alle gilt, müssen wir an dieser Freiheit arbeiten, sie mit Leben füllen. Sonst wird Freiheit zu einem Ort, der denjenigen vorbehalten ist, die schneller sind oder reicher, oder die Glück haben – also einer Minderheit.
Und was bedeutet das für Ihr Kunstzentrum, die Beursschouwburg?
Ich denke, dass unser Kunstzentrum tatsächlich ein freier Raum ist: ein Raum, in dem die Grenzen der Freiheit ausgelotet werden. Ein Raum, in dem Menschen sich treffen und Zeit miteinander verbringen können, die einen Anstoß brauchen, ihre Freiheit zu leben. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe für jedes Kunstzentrum: nicht nur ein Zentrum für Kunst zu sein, sondern ein sozialer Ort, an dem Debatten geführt werden, an dem Menschen ihre eigene Freiheit entdecken und ausleben können.
Wie lässt sich die künstlerische Praxis in der Beursschouwburg beschreiben?
Wenn wir aus dem Altbekannten ausbrechen wollen, müssen wir unsere Vorstellung von dem, was ein Kunstzentrum sein kann, ziemlich weit fassen. Das ist auch der Grund, warum wir an alles, was wir tun, multidisziplinär herangehen: visuelle Kunst, Theater, Tanz, Konzerte, Vorträge, Partys, Workshops, Lesegruppen. Alles gehört dazu. Es beginnt mit Kunst, aber am Ende kann alles daraus werden: ein Fahrradausflug, ein Stadtspiel ...
Haben Sie sofort zugestimmt, als das Goethe-Institut mit Ihnen beim Freiraum-Projekt zusammenarbeiten wollte?
Ja. Das Goethe-Institut in Brüssel und sein Team haben in den vergangenen Jahren schon einige Projekte von uns unterstützt. Was immer eine gute Zusammenarbeit war. Wir haben uns sehr gefreut, als wir gefragt wurden, ob wir an diesem Projekt teilnehmen. Und wir sind gespannt, wo uns das zusammen hinführen wird. Wir mögen es, ins Unbekannte vorzustoßen, vor allem dann, wenn dieses Unbekannte ein Freiraum ist.
Im September wurde im Rahmen eines Workshops und einer Vollversammlung die Fragestellung ausgearbeitet, die Brüssel im Rahmen von Freiraum beantwortet haben möchte. Glauben Sie, dass ein zukünftiges Partnerinstitut in Europa, sagen wir einmal das in Bratislava, verstehen wird, warum Sie mit dieser Fragestellung ins Rennen gehen?
Ich bin ziemlich neugierig darauf, wie sie reagieren, wenn sie unsere Frage lesen. Wir sind uns bewusst, dass unser Thema vor allem für Brüssel relevant ist. Aber wie unsere Hauptstadt wahrgenommen wird, geht uns ja eigentlich alle an in Europa. Wir, die wir in Brüssel leben, sind ständig damit konfrontiert, wie unser eigener Blick auf unsere Stadt gegen den der anderen prallt. Von außen betrachtet scheint Brüssel eine graue, gut geschmierte, kafkaeske Maschine zu sein, in der ständig neue Regeln erfunden werden. Von innen betrachtet aber ist Brüssel eine vibrierende, energiegeladene Stadt, die unglaublich viele Nationalitäten zusammenbringt. Eine Stadt mit einem sichtbaren künstlerischen und kulturellen Leben, angetrieben von zwei Communitys, die sich all den Neuankömmlingen zu öffnen versuchen – ob diese nun für immer oder nur zeitweise herkommen. Mich fasziniert die Frage, ob es uns gelingt, mit diesem Projekt die Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität zu schließen.
„Die Dynamik in Europa zurzeit: aus Dialog wird Vorhaltung, aus Empathie Respektlosigkeit. Darüber müssen wir dringend reden.“Sie sind sicher schon ganz neugierig darauf, mit welcher Stadt und mit welcher Fragestellung Sie selbst konfrontiert sein werden. Haben Sie da einen Wunsch?
Wir sind offen für alles, was auf uns zukommt. Ich persönlich bin gespannt, welche Sorgen und Probleme andere Regionen in Europa haben, was ihr täglicher Kampf ist. Und wie wir sie unterstützen können mit unseren Antworten auf ihre Fragen. Obwohl das Freiraum-Projekt für mich nicht vordergründig dazu da ist, Antworten zu finden. Ich verstehe es eher so, dass es darum geht, dieses gegenseitige Verständnis zu erneuern, dass wir ganz am Anfang hatten, als die Europäische Union gegründet wurde. Meiner Ansicht nach kann die EU nur überleben, wenn sie eine radikale Wende von einer Wirtschafts- zur Sozialunion einschlägt. Sie sollte keine Staatenunion sein, sondern eine Union der Menschen.
Welches Format wäre für die Beursschouwburg am passendsten? Theater, Tanz, Video?
Ganz egal. Für uns ist entscheidend, ob es uns und die Künstlerinnen und Künstler, mit denen wir arbeiten, herausfordert. Wie können wir die jeweilige Fragestellung mit unserer Situation in Brüssel zusammenbringen, wie können wir die Menschen dafür interessieren?
Der Grundgedanke von Freiraum ist Dialog und Empathie. Haben die Menschen in Brüssel diese Empathie, wenn es um Länder wie Griechenland, Spanien oder die Baltischen Staaten geht?
Du kannst nur Empathie für etwas haben, das du kennst. Du musst es nicht verstehen, aber du musst wenigstens eine Vorstellung der Begleitumstände haben, um Empathie zu entwickeln. Ich fürchte, dass unsere Politikerinnen und Politiker in den vergangenen Jahren unsere Fähigkeit zum Dialog und zur Empathie mit anderen Menschen in Europa nachhaltig beschädigt haben: Alles, was gut läuft, wird als Erfolg nationalstaatlicher Politik gefeiert, für alles, was schlecht läuft, ist Brüssel verantwortlich. Das sagt viel über die Stimmung aus. Unter diesen Bedingungen wird Dialog mehr und mehr zur Vorhaltung, und aus Empathie wird Respektlosigkeit. Das können wir zurzeit überall in Europa beobachten. Um den Nationalstaat voranzubringen, braucht es den Gegner von außen. Über diese Dynamik müssen wir dringend reden.