Bini Adamczak:
Die Feuerbachthesen von Marx
Bini Adamczak produzierte den folgenden Text und das dazugehörige Video für die „Marx in Brüssel-App“ des Goethe-Institut Brüssel. Die Autorin setzt sich mit der Aktualität der „Thesen über Feuerbach“, einem der wichtigsten Texte, die Marx in Brüssel verfasste, auseinander.
Die letzte These ist die bekannteste: Die Philosophinnen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Zusammen mit den vorangegangenen zehn Thesen über Feuerbach ergibt diese Schlussthese den vermutlich kürzesten Philosophietext der Welt. In ihm skizziert Marx den Streit zweier philosophische Positionen. Eine, die das Subjektive ins Zentrum der Welt stellt – die Erkenntnis, den Verstand, die Vernunft, den Geist. Und eine, die auf der Vorgängigkeit des Objektiven beharrt – auf Gegenständlichkeit, Sinnlichkeit, Materialität. Auf der einen Seite ein Idealismus, der meint, die Welt würde aus dem Geist geschaffen. Auf der anderen Seite ein Materialismus, der darauf insistiert, dass dieser Geist aus der wirklichen Welt stammt und von dieser bestimmt wird. Marx kritisiert beide. Die eine, idealistische, weil es ihr nicht gelingt, den Platz zu verlassen, der ihr in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zugewiesen ist. Als Theoretikerinnen halten diese Theoretikerinnen die Welt selbst für Theorie. Die andere, materialistische Position, kritisiert Marx, aus einem ähnlichen Grund, weil sie die Welt als eine Kette von Ursachen und Wirkungen fasst, die sich zwar begreifen, in die sich aber nicht eingreifen lässt. Der philosophische Streit ist Ausdruck einer politischen Situation, die lautet: Die Gedanken sind frei, aber gefressen wird, was auf den Tisch kommt. Oder aktualisierter: jede darf ihre Meinung haben und frei äußern, aber getan wird nur das, was die Polizei erlaubt. Marx‘ Frage lautet: Wer bestimmt, was auf den Tisch kommt, wer befehligt die Polizei? Oder in seinen Worten: Wer erzieht den Erzieher?
Marx schreibt diesen Text 1845, in Brüssel, wohin er vor der preußischen Regierung geflohen ist. „Krieg den deutschen Zuständen, allerdings!“, schreibt Marx. Von heute aus betrachtet, flüchtet er vom ökonomischen Zentrum Europas ins politische Zentrum Europas oder präziser vom polit-ökonomischen Zentrum ins Zentrum der Politik. Marx, der Flüchtling, stellt fest: jede Politik ist immer auch ökonomisch. Wo ließe sich das deutlicher sehen als bei der heutigen Europäischen Union und ihrer Herkunft aus Montanunion und Wirtschaftsgemeinschaft. Marx, der noch im selben Jahr staatenlos wird, stellt zugleich fest: jede Ökonomie ist immer auch politisch. Auch wenn die Ideologinnen der kapitalistischen Ökonomie genau dies unsichtbar zu machen versuchen. Die Ökonomie in ihrer heutigen Form soll schon bei Jägerinnen und Sammlern existiert haben und auch für alle Ewigkeit durch die menschliche Natur garantiert sein. Politik muss sich dann darauf beschränken, Sachzänge zu exekutieren, Sparpakete zu erzwingen. Austerität ohne Alternative. Was die Ideologinnen damit verraten ist der Mangel an Demokratie, der im Herzen der kapitalistischen Gesellschaften herrscht. Wozu sich um kollektive Entscheidungen bemühen, wenn sich nichts entscheiden lässt? Wozu noch wählen, wenn es nichts zu wählen gibt? Außer Technokraten, den Expertinnen der Notwendigkeit, die sich auch ohne Wahlen einsetzen lassen, und Rechtsnationalisten, die das verordnete Elend denen aufzwängen wollen, die bereits am elendsten leben.
Marx fordert eine Philosophie, die dieses Elend weder idealistisch zum Wirken des Weltgeistes oder der Werte der freien Welt umlügt, noch es resigniert materialistisch als leider unveränderlich hinnimmt. Sondern dagegen aufbegehrt - als Philosophie der Praxis. Hier geht es nicht um Pragmatismus einer instrumentellen Vernunft, um bloßes Machen, Geschäftigsein, um das business as usual. Veränderung ist ebenso wenig Selbstzweck wie Stillstellung. Auf die Art der Veränderung kommt es an und damit auf ihre Richtung. Die Welt, in der jeder gegen jeden handelt und jede für sich allein, lässt sich nicht alleine ändern. Die Praxis, um die es hier geht, ist somit eine, in der die Menschen gemeinsam ihre Welt erschaffen, erhalten und verändern. Denn es sind die Menschen, so wird es Marx wenige Jahre später formulieren, die ihre Geschichte machen. Und zwar nicht unter frei gewählten, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Aber nicht um diese veränderte Erkenntnis selbst geht es, sondern um die Praxis, die von dieser Erkenntnis ermöglicht wird. Das ist eine Praxis, die nicht Politik unter vorgefundenen Bedingungen ist, sondern Politisierung dieser Bedingungen, das heißt ihre Revolutionierung. Damit wird es möglich, die menschliche Sache aus dem ihr auferlegten Zwang zu befreien, also den Sachzwang, etwa einer menschenfeindlichen Austeritätspolitik, zu brechen. Damit nicht nur die hegemoniale Stellung des deutschen Kapitals beendet wird, das wäre bereits schön, sondern darüber hinaus die des Kapitals als solchem. Denn das ist eine zentrale Erkenntnis von Marx, die an Aktualität nicht verloren, sondern noch gewonnen hat: Das Kapital als verdinglichtes, verpanzertes soziales Verhältnis hält die Menschen immer noch und immer wieder in einem Zustand, in dem sie die Welt nur verschieden interpretieren können, aber nicht gemeinsam – zu ihren Gunsten – ändern.
Bini Adamczak ist Autorin aus Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie das Buch „Beziehungsweise Revolution - 1917, 1968 und kommende“ in der edition suhrkamp. Ihr Text „Kommunismus: Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird“ ist inzwischen zum Klassiker avanciert und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er wird im November 2018 unter dem Titel „Le communisme expliqué aux enfants“ bei Entremonde erscheinen.