#Wohnenswert
Brüssel ist Avantgarde.
Wie sollten wir unsere Städte organisieren, damit sie angenehme Orte sind? Wie verändern sich unsere Städte? Sabine Buchwald hat für uns mit dem Soziologen, Geograph und Brüssel-Kenner Eric Corijn über Städte und Entwicklungen im Stadtleben gesprochen.
Von Sabine Buchwald
Herr Corijn, wo leben die Menschen glücklicher – auf dem Land oder in der Stadt?
Eric Corijn: Glücklichsein ist immer ein Zusammenspiel zwischen dem individuellen Zustand, den Bedürfnissen und der Umgebung. Auf dem Land kann man sehr isoliert sein, Einkaufsmöglichkeiten und kulturelle Angebote vermissen. Ich lebe übrigens in dem bunten Brüsseler Viertel Matongé und bin sehr glücklich.
Wie sollten wir unsere Städte organisieren, damit sie angenehme Orte sind?
Wir sollten aufhören zu denken, dass Natur und Landwirtschaft nur außerhalb der Städte zu finden sind. Sie sind wie ein Ökosystem, in dem Interaktionen zwischen bebauten und natürlichen Strukturen stattfinden. Wir müssen die Natur in unsere Städte integrieren, nachhaltiger und lokaler denken, denn lange wird es nicht mehr möglich sein, unsere Produkte aus der ganzen Welt kommen zu lassen.
Noch aber verstopfen Lastwagen und Menschen, die pendeln, die Straßen. Ganz besonders in Brüssel.
Das ist leider ein spezifisches Problem dieser Stadt. Der Transport ist sehr auf Autos ausgerichtet. Offiziell leben dort 1,2 Millionen Menschen. In Wirklichkeit beherrbergt das Gebiet in und um Brüssel aber drei Millionen Menschen. In Brüssel gibt es etwa 710.000 Jobs, etwas mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer leben aber nicht dort – und zahlen auch keine Steuern. Dieses Geld fehlt natürlich für die Infrastruktur.
2013 haben sie das Buch „Où va Bruxelles“ herausgebracht. Was hat sich seitdem verändert?
Noch immer gibt es eine institutionelle Trennlinie zwischen den Sprachgruppen, doch die Gesinnung entwickelt sich in Richtung Integration und Gemeinsamkeit. Ein aktuelles Beispiel ist ein neuer, dritter regionaler Entwicklungsplan, der nicht auf den kulturellen Unterschieden basiert. Ihn umzusetzen ist schwierig, denn wir haben immer noch 19 Stadtverwaltungen.
Brüssel ist eine sehr internationale Stadt, Wohnraum zu finden ist leichter als etwa in London oder Paris. Ist Brüssel die europäische Stadt der Zukunft?
Brüssel ist Avantgarde. Mehr als zwei Drittel der Einwohner sind nicht belgo-belgischen Ursprungs. Das heißt die Stadtverwaltung muss überwiegend für Nicht-Belgier arbeiten. Die Stadt bietet alles an Kultur und Einkaufsmöglichkeiten, was in den großen europäischen Städten zu finden ist. Man findet das Beste von Amsterdam, von London, von Berlin an einem Ort. Man kann in Brüssel erleben, wie man gut auf der Basis von Unterschiedlichkeit zusammenleben kann.
Wie können wir Menschen davon überzeugen, dass Unterschiede eine Tatsache sind?
Der beste Weg ist, den Menschen gute Beispiele zu geben. Städte sind Marktplätze, hier denken die Menschen häufig weniger traditionell und arrangieren sich mit Fremden. Urbanität bzw. Urbanismus sind das Gegenteil von Nationalismus. In Großbritannien haben überwiegend die Leute auf dem Land für den Brexit gestimmt. Nicht die Geschichte definiert eine Stadt, sondern ihre Ausrichtung für die Zukunft. Weltweit leben übrigens mehr als die Hälfte der Menschen in Städten.
Hilft Stadtleben gegen Populismus?
Wenn Bürgermeister die Welt regierten, wäre sie ein besserer Ort. In Städten wird problemorientierter gehandelt als auf Staatsebene mit Angeboten an Kultur, Kunst und Projekten. Das macht das Stadtleben spannend.
Viele Menschen kaufen heute online ein. Wie wird dieses Verhalten unsere Städte verändern?
Der globale Markt, wo immer nur der Preis zählt, ist nur ein Aspekt. Gleichzeitig legen viele Leute wert auf lokal produzierte Lebensmittel und Bioprodukte, weil sie wieder Kontrolle über die Herkunft der Waren möchten. Die Lebensmittelskandale oder der Diesel-Betrug haben zum Vertrauensverlust geführt. Beide Bewegungen sind nun zu finden.
Was können wir gegen die wachsende Armut in unseren Städten tun?
Umverteilen! Zwei Gedanken dazu: Unsere Wohlfahrtsysteme werden immer schwächer. Denn einerseits müssen zu viele Menschen unterstützt werden und die Superreichen versuchen, Steuern zu hinterziehen. Parallel dazu entwickeln sich Hilfsstrukturen wie Repair-Cafés oder Carsharing-Angebote; Nachbarn helfen sich gegenseitig, so wie früher. Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist sicher der beste Weg, aber die Idee von Gemeinsamkeit und Teilen hilft, Armut zu lindern. Städter sind keine besseren Menschen, aber man hat verstanden, dass man etwas für eine ärmere Nachbarschaft tun muss. Denn Menschen, die unzufrieden sind, werden sich auflehnen.
Welche Stadt halten Sie für ein besonders gutes Beispiel?
Städte sind komplexe, eigene Systeme. Das macht es schwierig, sie miteinander zu vergleichen. Man kann höchstens einzelne Aspekte betrachten: Freiburg (i. Breisgau) ist seit langem eine grüne Stadt oder Bordeaux bietet ein gutes Tramsystem. Jede Stadt muss ihre eigenen Lösungen finden. Das Fahrradangebot „Villo“ in Brüssel zum Beispiel wurde von Lyon kopiert. Aber Lyon ist eine flache Stadt, Brüssel ist in drei Täler gebaut, das macht Fahrradfahren anstrengend. Jedes System muss an die Bedingungen angepasst werden.
Wie kann man Kinder auf das Stadtleben vorbereiten?
Wir müssen unsere Kinder auf die Welt vorbereiten - und die Gegebenheiten in Städten sind ihr ähnlicher als in einer ländlichen Umgebung. Wir sollten eine urbane Erziehung entwickeln, um die drei großen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen: Klimawandel, die soziale Ungleichheit und die Notwendigkeit, mit verschiedenen Menschen zusammenzuleben. Die jungen Menschen müssen lernen, damit umzugehen. So sollten zum Beispiel Berliner über die türkische Geschichte und Sprache Bescheid wissen. Das Schulsystem darf deshalb keine nationale Angelegenheit sein.
Wie kann man Menschen, die Angst vor dem Fremden haben, ein Gefühl der Sicherheit geben?
Ist es nicht komisch, dass wir uns nie fragen, wie wir denjenigen die Angst nehmen, die zu uns kommen? Durften die Türken oder Italiener von ihren Ängsten sprechen, als sie nach Deutschland immigrierten? Man kann nicht die Welt für Märkte öffnen, davon profitieren, aber die Menschen draußen halten.