Lesung mit Antje Rávik Strubel zu „Blaue Frau“
Gemeinsam mit der Vertretung des Landes Brandenburg bei der Europäischen Union (EU) lud das Europanetzwerk Deutsch am 9.11.2022 zu einer Lesung mit der Autorin Antje Rávik Strubel ein, deren Roman „Blaue Frau“ im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.
Trotz des Generalstreiks in Belgien, der auch große Behinderungen in der Stadt Brüssel verursachte, fand sich am Abend des 9. Novembers eine große Zahl an interessierten Gästen in den Räumlichkeiten der Vertretung Brandenburgs ein. Nach der Begrüßung durch den Gastgeber, Falko Brandt, stellvertretender Leiter, hieß auch die Programmbeauftragte des Europanetzwerk Deutsch und Moderatorin des Abends, Franziska Humphreys, die Gäste und die Autorin herzlich willkommen.
Im moderierten Wechsel aus Gespräch und Lesung bekam das Publikum einen tiefgehenden Einblick in den Roman der Autorin, seine Entstehungsgeschichte und den Schaffensprozess.
Antje Rávik Strubel hat ihren Weg zur Literatur zunächst mit einer Ausbildung zur Buchhändlerin begonnen, um dann in Potsdam und New York Literaturwissenschaften, Psychologie und Amerikanistik zu studieren. Mittlerweile hat sie 12 Romane veröffentlicht und mehrere Hörspiele realisiert. Sie ist ebenfalls als Übersetzerin aus dem Englischen und Schwedischen tätig, insbesondere von Joan Didion, Lucia Berlin, Virginia Woolf und Margarete Fagerholm. Sie ist Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie des PEN Zentrums Deutschland und Mitgründerin des PEN Berlin. Ihre literarische Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Buchpreis 2021 für den Roman „Blaue Frau“. Zudem ist Antje Rávik Strubel Mitglied im Beirat „Literatur und Übersetzungsförderung“ des Goethe-Instituts.
„Blaue Frau“ erzählt die Geschichte von Adina, einer jungen tschechischen Frau, die nach einem sexuellen Übergriff in Helsinki strandet, wo sie auf Leonides, einen estnischen EU-Abgeordneten, trifft. Während dieser sich für Menschenrechte einsetzt, versucht Adina dem inneren Exil zu entfliehen. Der Roman erzählt vom Ringen um die persönliche Integrität der Protagonistin. Ihre Erfahrungen spiegeln auch die jüngsten Machtverhältnisse zwischen Ost- und Westeuropa wieder und werfen die Frage auf, inwiefern Mechanismen der EU-Institutionen die Einhaltung grundlegender Menschenrechte gewährleisten können. Machtverhältnisse sind insgesamt ein zentrales Thema des Romans: innerdeutsche, zwischen West- und Osteuropa sowie zwischen Männern und Frauen.
In den gelesenen Ausschnitten erhielt die Frage nach der Aufarbeitung des sexuellen Übergriffs und den juristischen Konsequenzen für den Täter Raum. Antje Rávik Strubel berichtete dabei von monatelangen Recherchen und Terminen mit Jurist*innen, infolgedessen sie sich selbst mehr Zeit für die Aufarbeitung dieser Themen in ihrem Buch einräumen musste. Im Roman entschließt sich Adina schließlich mithilfe einer Freundin dazu Anzeige gegen den Täter zu erstatten. Dennoch blieb für Frau Strubel eine wichtige Frage offen: wie würde sie trotz der Sprachlosigkeit, die das Trauma in Adina auslöst, ihr eine Stimme geben können? Wie könne sie ihre Sprachlosigkeit erzählen? Die Autorin betonte in diesem Zusammenhang, dass sich in Deutschland die juristische Aufarbeitung von sexueller Gewalt immer noch als schwierig und langwierig gestaltet. Die Rahmenbedingungen der gerichtlichen Verhandlungen sehen es beispielsweise weiterhin vor, dass Opfer und Täter im gleichen Saal beisammen säßen. Natürlich drängt sich hier die Frage auf, wie viel man einer traumatisierten Person nach einem Übergriff noch zumuten könne.
Ein zweiter wesentlicher Themenstrang ist die Frage nach den Unterschieden in der west- und osteuropäischen Erinnerungskultur, und insbesondere welchen Stellenwert der Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus zugemessen wird. Die Figur des Leonides, der sich als estnischer Abgeordneter im Europaparlament für Menschenrechte und eine veränderte Geschichtsschreibung einsetzt, sowie der Handlungsort Helsinki als "Schnittstelle zwischen Ost und West" stehen stellvertretend für diese Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang beschrieb die Autorin auch das Spannungsfeld zwischen ihrer ostdeutschen Herkunft und westdeutschen Prägung, in dem sie sich selbst als Schriftstellerin immer wieder neu verorten muss.
In den Leseausschnitten trat ebenfalls die titelgebende „Blaue Frau“ auf, die das erzählerische Geschehen in kurzen, lyrischen Intermezzi unterbricht. In ihrer Rätselhaftigkeit und poetischen Schönheit ruft sie die Geister vieler anderer klassischer literarischer Frauengestalten auf (Undine, Ophelia, Echo, Effie Briest, die Weiße Frau, ...) und steht zugleich in Zwiesprache mit anderen Autorinnen. So enthält das Buch etliche explizite und implizite Zitate oder Anspielungen auf beispielsweise Ilse Aichinger, Virginia Woolf, Joan Didion. Viele Gäste der Lesung beschäftigte die Frage nach der Identität der Blauen Frau. Antje Rávik Strubel offenbarte daraufhin diese Figur als Stimme in ihrem Kopf, die sie bei ihren Spaziergängen am Hafen Helsinkis als Zwiegespräche wahrgenommen habe. Im Roman selbst sei sie keine reale Figur, sondern ein stilistisches Mittel, um über Adinas Geschichte und Sprachlosigkeit reflektieren zu können. Letztlich sei es also eine Möglichkeit gewesen, Adina doch eine Stimme zu verleihen und mithilfe des Erzählens Gerechtigkeit herzustellen. Abschließend betonte Antje Rávik Strubel, dass sie ihre Aufgabe und auch ihr Interesse als Autorin darin sehe, Grenzen aufzuweichen. Grenzen von Ländern oder Gesellschaften, genauso wie Körper- und Beziehungsgrenzen.
Im weiteren Verlauf signierte die Autorin ihr Werk, bevor der Abend mit einem Empfang und in angeregten Gesprächen ausklang.