AFTER REASON
After Reason - Productive Undoing is a Difficult Task
Die „Doppelbindungstheorie“ (engl. double bind theory) in der psychologischen Forschung der Mitte des 20. Jahrhunderts beschreibt eine Kommunikationsform, die durch gleichzeitige widersprüchliche Botschaften gekennzeichnet ist. In der übermittelten Botschaft fließen eine oder mehrere zugrunde liegende Energien in unterschiedliche oder sogar entgegengesetzte Richtungen. Ein Beispiel dafür ist, wenn ein Elternteil seinem Kind sagt, dass es geliebt wird, aber gleichzeitig durch die Körpersprache Ablehnung kommuniziert – solche Situationen können Angst, Schizophrenie oder lähmende Erstarrung auslösen. Die postkoloniale Philosophin Gayatri Spivak entlehnte den Begriff des „Double Bind“, um unsere heutige Situation als schmerzhaftes Nachspiel des grundlegenden Paradoxons von Universalismus und Kolonialismus des 18. und 19. Jahrhunderts zu beschreiben.
Aufklärung - ein ambivalentes Erbe
Die Aufklärungsbewegung, eine philosophische Debatte im Europa des 18. Jahrhunderts, versprach universelle Freiheit, Gleichheit und Emanzipation durch die Vernunft. Im Gegensatz dazu wissen wir heute, dass sie auch Sklaverei, Völkermord und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit sich brachte. Um dies zu beschreiben, spricht Spivak von der Aufklärung als Erbe, das sowohl Kolonisierte als auch Kolonisatoren prägt: Genauso wie die Kolonisierung durch die Aufklärung gerechtfertigt wurde, ermöglichte das Denken der Aufklärung den Kolonisierten, sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben und für ihre Freiheit zu kämpfen. Vorerst gibt es kein Entkommen aus diesem dialektischen Dilemma – nur die Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen.
Angesichts der aktuellen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik oder der Wahlergebnisse, die zweifellos faschistische Dynamiken aufweisen, sind diese als konstitutive Aspekte der europäischen Geschichte in unsere Gesellschaften eingeschrieben. Während der Westen tief in gegenwärtige Gräueltaten gegen die Menschlichkeit verwickelt ist, treten diese Verwicklungen historischer Narrative zutage: „productive undoing is a difficult task“, deren produktives Auflösen ist eine schwierige Aufgabe“ (Gayatri Spivak).
AFTER REASON lädt Künstler*innen und Denker*innen ein, sich mit der unangenehmen Erfahrung des Double Bind auseinanderzusetzen. Theoretische Diskussionen werden die künstlerische Praxis begleiten, um das Verhältnis zwischen aktuellem Rassismus, (Siedler-)Kolonialismus und einer Universalismusdebatte, die dringend einer Aktualisierung bedarf, zu beleuchten. Inwieweit sind universalistische Ideen heute aus postkolonialer Perspektive denkbar, und wie sieht produktive Kritik in einer Welt nach der Identitätspolitik aus? Wir werden uns mit dekolonialen Praktiken, Spekulationen und Welterschaffungen befassen, um ein „imaginatives Aktivismus“ zu praktizieren, als eines der letzten verfügbaren Werkzeuge gegen polarisierende Diskurse und das Unbehagen der Geschichte.
Programmvorschau
Vom 17. bis 19. Oktober werden verschiedene Künstler*innen und Philosoph*innen zusammenkommen, um ein Wochenende voller Diskussionen, Performances, Workshops und Lesungen zu gestalten. Das Programm ist eine Reaktion auf Kant-Jubiläen, sowie ein Kontextvorschlag für das Performancewerk One Drop von Sonja Lindfors, welches die historischen Verflechtungen von Kapitalismus, Kolonialität und Imperialismus und deren Einfluss auf das zeitgenössische westliche Ästhetikverständnis nachzeichnet. Die Veranstaltung wird von der postkolonialen Philosophin Nikita Dhawan eröffnet, die über ihr neu erschienenes Buch Rescuing Enlightenment from Europeans sprechen wird, in dem sie queere und feministische postkoloniale Theorie mit Ideen der Aufklärung versöhnt. Das Brüsseler queere BIPoC-Kollektiv Fatsabbats und She-Dandy Sofia Bempeza Workshops zu Performance und zum Kreativen Schreiben anbieten, um gemeinsam Gegenräume zu schaffen. Kulturforscherin Ana TeIxeira Pinto wird ihr Projekt Fascism, Unreason and the Paradox of Modernity vorstellen und die Instrumentalisierung des Vernunftbegriffs im Kontext des aktuellen Aufstiegs der extremen Rechten beleuchten und Philosoph Sami Khatib beginnt mit einer kantischen Perspektive auf Teleologie, Frieden und Geschichte der Philosophie und spannt schließlich den argumentativen Bogen zu Palästina, Marx, Benjamin und Psychoanalyse.
Im November und Dezember werden an unerwarteten Brüsseler Alltagsorten weitere Veranstaltungen stattfinden: Als Reaktion auf das historische Erbe der exklusiven Wohnzimmer- oder Salongespräche unter den Denkern der Aufklärung werden Künstler*innen und Intellektuelle in philosophischen “Pop-Up-Salons“ im öffentlichen Raum zusammentreffen. Moderiert vom Kantianer Stephen Howard, mit u.a. Potsdamer Philosoph Thomas Khurana. Weitere Informationen folgen.
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