„Das Jahrhundert der Frauen“
Wider das Mandat der Männlichkeit
„Das Jahrhundert der Frauen“ der Goethe-Institute in Südamerika entwickelt Strategien gegen patriarchale Strukturen und die Gewalt gegen Frauen. Anlässlich des Internationalen Frauentags sprach „Goethe aktuell“ mit der argentinischen Anthropologin Rita Segato.
Die argentinische Anthropologin Rita Segato ist in der akademischen Welt durch ihre Arbeiten zu Gewalt gegen Frauen und die feministischen Kämpfe bekannt.
Rita Segato
| Foto (Ausschnitt): © Jocelina Laura de Carvalho Segato
Während der letzten Militärdiktatur ging sie ins Exil nach Brasilien, wo sie über dreißig Jahre in Forschung und Lehre tätig war. Eins ihrer bekanntesten Bücher, „Las estructuras elementales de la violencia“ („Elementare Strukturen der Gewalt“), basiert auf einer von ihr geleiteten Studie über Gefängnisinsassen in Brasília, die Haftstrafen aufgrund von Sexualverbrechen verbüßen. Von Segato stammen ebenfalls „La Guerra contra las mujeres“ („Der Krieg gegen die Frauen“) und „Contrapedagogías de la crueldad“ (erscheint im Mai 2021 unter dem Titel „Wider die Grausamkeit“ im Mandelbaum Verlag, Wien). Sie beteiligt sich an „Das Jahrhundert der Frauen“, einer länderübergreifenden Initiative der Goethe-Institute der Region Südamerika.
Femizide und andere Formen von Gewalt gegen Frauen nehmen in den Ländern Lateinamerikas zu. Was läuft da schief?
Wir haben ein schwerwiegendes Problem, weil es nicht ausreicht, Gesetze zu erlassen, es muss auch garantiert werden, dass sie eine greifbare, nicht bloß eine symbolische Wirkung entfalten. Wir haben das Thema Prävention noch nicht richtig verstanden. Wir hatten gedacht, das wichtigste Instrument der Prävention sei die Gesetzgebung, und jetzt stellen wir fest, dass dem nicht so ist. Wir müssen uns genauer ansehen, wo die Hindernisse liegen, in welchem Moment sie entstehen, durch welche Personen, durch welche Funktionen.
Und wo liegen die Hindernisse?
Um zu verstehen, was die korrekte Umsetzung vorhandener Gesetze behindert, müssen wir zwei Bereiche beleuchten, den polizeilichen Bereich und den der Justiz auf allen ihren Ebenen, also Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Rechtsprechung. Ein Richter benutzt dieselbe gedankliche Grundlage wie ein Lastwagenfahrer oder ein Schlachter. Aus dem „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“, dieser bemerkenswerten UN-Konvention, geht hervor, dass es Gewohnheiten gibt, die Verbrechen sind. Wenn ein Staatsanwalt, Richter oder Verteidiger nun seine Aufgabe auf der Grundlage der bestehenden Gewohnheit ausübt, trägt er zu dem Verbrechen bei.
Die Gerichte sprechen weiterhin danach Recht, was eine patriarchale Kultur gebietet?
Sicher, die Justiz ist eine machistische Gilde, auch wenn sich darin Frauen finden, machistische Frauen, die sich innerhalb patriarchaler Denkmuster bewegen und dem Patriarchat in der eigenen Gefühls- und Vorstellungswelt nicht auf den Grund gehen. Ohne eine Untersuchung der eigenen Wahrnehmung und des Empfindens fällt es sehr schwer, sich einem hegemonialen Denksystem, in diesem Fall dem patriarchalen Paradigma, zu entziehen.
Wie sind Sie auf das Mandat der Männlichkeit gestoßen?
Ich bin in Gesprächen mit Vergewaltigern im Gefängnis von Brasilia darauf gestoßen. Dort ist mir klar geworden, dass diese Männer etwas zeigen, nämlich, dass sie in der Lage sind, ein rituelles Opfer darzubringen, damit sie als Mitglieder einer »Männlichen Bruderschaft« betrachtet werden, einer „fratria“, die ich inzwischen als eine Gilde innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft verstehe, wobei die Institutionen der Gilde einverleibt sind und die soziale Ordnung durch die Gildeordnung in bedrohlicher Weise unterminiert wird.
Wie kann dieses Mandat der Männlichkeit gebrochen werden?
Eine der Brutstätten für Gewalt ist der Gehorsam der Männer gegenüber dem Mandat der Männlichkeit. Das Mandat der Männlichkeit macht die Männer zu Sklaven und uns Frauen zu Opfern. Die Männer gehorchen diesem Mandat, weil man ihnen dafür einen prestigeträchtigen Titel verleiht: das „Mannsein“. Ihnen wird beigebracht, dass mit dem „Mannsein“ eine Überlegenheit innerhalb der Gesellschaft einhergeht. Die Aufgabe besteht darin, die Männer davon zu überzeugen, dass das ein schlechtes Geschäft ist, dass also das, was sie gewinnen, wenn sie sich dem Mandat der Männlichkeit beugen, zu wenig ist, verglichen mit dem, was sie dabei verlieren. Wir Frauen sind es, die den Männern dabei helfen, dieses Mandat loszuwerden, mit welchem sie unterdrücken, vergewaltigen und sich durch Gesten ausdrücklicher oder versteckter Grausamkeit als überlegen darstellen müssen – Gesten, mit denen Frauen die Souveränität über den eigenen Körper genommen wird. Ich spreche von männlichen Potentialen, die bedauerlicherweise als Macht über die Frau zum Ausdruck kommen. Eine Männlichkeit, die nicht diese Fähigkeit zur Aneignung, zur Besetzung, zur Beherrschung zur Schau trägt, existiert nicht. Daraus resultiert eine Gefühlstaubheit bei Männern, weil sie gelernt haben, dem Mandat der Männlichkeit zu gehorchen.