Ein literarischer Hausbesuch
Bereits am zweiten Abend nach meiner Ankunft in Göttingen nahm ich – noch im Jetlag – an einem literarischen „Hausbesuch“ teil, wie es im Programm hieß. Frau Irmy Schweiger, die mich nach Deutschland eingeladen hat und in der Abteilung Interkulturelle Germanistik der Universität Göttingen für das Residenzprogramm zuständig ist, begleitete mich an diesem Abend und sie übersetzte diese Veranstaltung mit „拜访“ (Anm. des Übers.: „jmd. einen Besuch abstatten“). Dieses bereits zum neunten Mal stattfindende literarische Zusammentreffen wurde vom früheren Leiter des Literarischen Zentrums Göttingen Hauke Hückstädt ins Leben gerufen: Literaturlesungen wechseln vom öffentlichen in den privaten Raum, wie ein Gast klopft die Literatur an, tritt herein und macht einen ungezwungenen und fröhlichen Hausbesuch. Aus Platzgründen kann der Umfang für gewöhnlich nicht groß sein, etwa 20-30 Leute, die erst beim Kartenkauf die Adresse und Identität des „Hausherrn“ erfahren, um so der Sache eine etwas geheimnisvollere Note zu geben. Es könnte also ein Freund, ein Arbeitskollege oder auch jemand anderes sein.
Als wir auf dem Hinweg ein weites Waldstück durchquerten, erzählte mir Irmy, dass der diesmalige Gastgeber überraschenderweise der Lehrer ihrer Tochter ist. Der die „Literatur“ mitbringende Hauptgast ist der deutsche, vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Lutz Seiler, der auch Träger des im deutschen Sprachraum bedeutenden Ingeborg-Bachmann-Preises ist. Er schrieb zunächst Gedichte und wechselte erst später zum Roman, berühmt ist er für seine sehr elegante Sprache. Da seine Werke noch nicht ins Chinesische übersetzt wurden, bin ich mit diesem Autor leider nicht vertraut. Nach einer Weile kamen Irmy und ich auf dieses Thema zu sprechen: Verglichen mit Werken, die durch komplizierte Geschichten oder Themen gekennzeichnet sind, ist es schwieriger, mittels Übersetzung sprachlich sehr versierte Autoren in eine andere Kultur zu übertragen, da sich das Besondere ihrer Sprache verändert und verschwindet, oder gar seine Bedeutung ganz einbüßt, wenn man es schlecht macht. Dies ist halt das alte Problem der Literaturübersetzung, gleichermaßen kann ich aber als Schriftstellerin nicht anders, als auch emotional ein kleines bisschen berührt zu sein: Genau das macht doch die Empfindsamkeit, die Begrenztheit und den Stolz der Literatur aus.
Um 20 Uhr fing es offiziell an, Einlass war aber schon um 19.45 Uhr. Wir waren bereits einige Minuten früher da und unterhielten uns wartend vor dem Haus als auch die anderen Gäste ankamen, einer nach dem anderen, viele mit dem Rad und die Schweißperlen noch auf der Stirn, es war ein heißer Sommerabend. Göttinger lieben Radfahren, Irmy hat ihre beiden Töchter schon mal während der Ferien auf eine ausgedehnte, zweiwöchige Radtour in den Osten Deutschlands mitgenommen. Und da Göttingen relativ klein ist, sind Radfahren und Zufußgehen auch die angemessensten Arten, sich fortzubewegen. Das macht auch verständlich, warum es in dieser kleinen Stadt so ruhig ist und so gut riecht. Dass jeden der Duft der Gräser und Wälder immer umhüllt, ist für den Göttinger sicherlich ganz normal, verglichen jedoch mit meinem geschäftigen und lauten, mal lieben- und mal hassenswerten Nanjing, lässt es mich eher eine träumerische Sentimentalität verspüren.
Ist es soweit, alle gehen rein. Meine vorherigen Erwartungen bestätigen sich tatsächlich, es scheint wirklich eine Veranstaltung von Freunden der Literatur zu sein: Verleger sind da, Universitätsprofessoren im Ruhestand, Ärzte, Künstler, Studenten und andere. Auch ein Jugendfreund des Autors und sogar Freunde von außerhalb sind gekommen. Mich als einen zum ersten Mal anwesenden und exotischen Gast ausgenommen, kennen sich die meisten der Zuhörer untereinander gut, besonders Irmy steht mit vielen von ihnen aufgrund der von ihr geleiteten Kurse in Kontakt. Als sich während des Wartens alle unterhielten, wechselte ich mit Irmys übersetzerischer Hilfe einige Worte mit einem Literaturverleger, dessen Verlag bereits Werke eines koreanischen Dichters übertragen hat. Dieser Prozess sah so aus: Zunächst wurden sie von einem deutschkundigen Koreaner ins Deutsche übersetzt, danach hat ein deutscher Dichter das Poetische noch mal überarbeitet, zwei Arbeitsprozesse also! Irmy bemerkte an, dass sie in ihren Kursen die Studenten einen deutschen Roman ins Chinesische übersetzen und dann wieder von chinesischen Studenten ins Deutsche übersetzen lässt und schließlich mit dem Ausgangstext einen Vergleich unternimmt und Unterschiede diskutiert… Immer noch geht es ums Übersetzen! Immerfort bemüht man sich aus verschiedenen Richtungen und hofft, sich noch mehr der Seele des anderen zu nähern, oh, Turm zu Babel!
Nach einigen kurzen Eröffnungsworten des Gastgebers und des Literarischen Zentrums Göttingen (natürlich versehen mit einigen humorvollen, klassischen Referenzen) tauschte sich Lutz Seiler mit den Zuhörern noch kurz aus und dankte wichtigen Freunden bevor die Lesung offiziell begann. Er hatte ein Buch über seine Kindheitserinnerungen in Ostdeutschland ausgewählt, somit ging es natürlich auch um die Details und die Atmosphäre der damaligen Zeit. In der darauffolgenden Fragerunde sprach man über Dinge wie die ostdeutsche Vergangenheit, den Blickwinkel eines Erwachsenen und die Einsamkeit eines Kindes, sowie über das Schreiben und das Leben… „Die Zeitwaage“, der Titel des Buchs, ist eine auf einer Uhr angebrachte kleine Maschine, die niemals aufhört zu schwingen. Nach langem Gestikulieren und meinem beiläufigen Vorschlag, das Abstrakte mit dem Konkreten zu verbinden, übersetzten Irmy und ich den Titel schließlich mit „时间秤“. Mir gefällt dieser Name sehr, er hat etwas Unbestimmtes.
Die Lesung dauerte etwa 40 Minuten. Da ich absolut nichts verstehen konnte, ließ ich meinen Geist im Wesentlichen die ganzen 40 Minuten lang schweifen, 40 Minuten in einem anderen Raum und einer anderen Zeit. Begleitet vom weichen Schlag des Aufs und Abs der fremden Sprache auf meinem Trommelfell, bemerkte ich vor dem Dachfenster den von hellen über gelbroten bis hin zu graublauen Farben durchzogenen Horizont, mein Blick wanderte entlang den an der Wand hängenden Schwarzweiß- Kalenderportraits hinüber zu den bewegungslosen, mir fremden Zuhörern im Rauminnern zu dem langsam weichwerdenden Käse und den wie eine Braut auf einen Kuss wartenden Rotwein auf dem langen Tisch… Die Sprache strömte sich zerteilend und frei in der Luft, ich aber hatte ein anderes Gefühl: Legte man auf die eine Seite der Zeitwaage die Literatur, dann wäre auf der anderen Seite alles, was wir sehen können, oder sogar mehr, bis hin zur ganzen Welt. Oder man kann auf die beiden Seiten nichts hinlegen, denn die Literatur kann gleichermaßen so schwer und so leicht sein wie die kleine Stadt Göttingen vor dem Fenster, wie mein Nanjing, wie jeder winzige Funke des Mondlichts auf der Welt und wie alle nicht einschlafen könnenden Gesichter.
„Ein Literarischer Hausbesuch“ bei Lutz Seiler
| Lu Min
Lu Min (鲁敏) ist seit 1998 als Romanautorin tätig. Erschienen sind bisher unter anderem Abendmahl zu sechst (六人晚餐), Neun Arten von Kummer (九种忧伤), Der Vater auf der Mauer (墙上的父亲), Visier (取景器), Staub aufwirbeln (惹尘埃), Festbegleitung (伴宴), Trunken von Papier (纸醉), Abgrund der Erinnerung (回忆的深渊) sowie Ärger über Ärger (百恼汇).
Lu Min wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, d. u. Lu Xun Literaturpreis, Preis für gewichtige Literatur, Preis für Volksliteratur, Yu Dafu Preis, Preis der Zeitschrift Zhongguo Zuojia 中国作家 (Chinese Writers), zweijähriger Preis für chinesische Romanliteratur, Leserpreis der Zeitschrift Selected Stories (小说选刊), Preis für Originalität des Hundert-Blumen-Preises der Zeitschrift Xiaoshuo Yuebao 小说月报 (Novel Monthly), Jahrespreis 2007 für junge Autoren; sie wurde von der Zeitschrift Renmin Wenxue 人民文学 (Peoples Literature) unter den „Top20 Autoren der Zukunft“ sowie von der Vereinigung für chinesische Romanliteratur der taiwanischen UNITAS Publishing Co. unter den „20 unter 40“ verzeichnet. Einige ihrer Werke erschienen auch auf Deutsch, Französisch, Japanisch, Russisch, Englisch, Spanisch, Italienisch und Arabisch.