Die Pfade des Geo von Lengerke
Wiederentdeckung durch die Kunst
Inmitten der kolumbianischen Natur verbirgt sich ein Labyrinth aus Pfaden, die im 19. Jahrhundert durch einen deutschen Unternehmer angelegt wurden. Eine Gruppe von Künstlern versucht sie wieder sichtbar zu machen.
Im Departamento Santander im Nordosten Kolumbiens schlängeln sich weitverzweigte, mit Steinen befestigte Wege durch Täler, Ebenen und Wälder, vorbei an Gehöften, Kakteen und Ziegen, mal über rote, mal über gelbe Erde. Dieses Straßennetz ist unter dem Namen Caminos Reales oder auch Caminos de Herradura bekannt. Seine Geschichte führt uns zurück ins 19. Jahrhundert, genau genommen in die 1860er Jahre, als der damalige Souveräne Staat Santander den deutschen Unternehmer Geo von Lengerke mit dem Bau beauftragte. Heute zählen die Lengerke-Wege zu den großen kulturellen, historischen, archäologischen und touristischen Denkmälern von Santander.
Lengerkes Person ist eng mit der Geschichte und der regionalen Vorstellungswelt verknüpft. Der Deutsche lebt weiter in Volkslegenden und Forschungsarbeiten bis hin zu dem berühmten Roman La otra raya del tigre (1977; 1993 fürs Fernsehen verfilmt) von Pedro Gómez Valderrama. Seine Berufung, eine abgeriegelte, weltabgewandte Region für die Handelskorridore zu öffnen, sowie den Anstoß zur Entwicklung einer lokalen Industrie und Wirtschaft zu geben, steht für Modernisierung und Fortschritt. Kritischere Perspektiven sehen die Heldensagen jedoch unter dem Siegel eines gefräßigen Kolonialismus und verweisen auf von Lengerkes Beteiligung am Verschwinden der indigenen Guanes und Yariguíes, die die Wege bereits vorgebahnt und genutzt hätten, bevor sie denjenigen, der für ihre Auslöschung verantwortlich war, berühmt machten.
Gewiss ist, dass von Lengerke bei seiner ambitionierten, ungeheuren Heldentat von fieberhafter Begeisterung angetrieben wurde. „Warum blieb er in Santander? Nicht allein wegen der Chinarinde, Hüten und Tabak. Die steilen Felsen der Andenkordillere hatten es ihm angetan. Die wilde Pracht der Landschaft erweckte in ihm den Wunsch, sie durch Wege und Brücke zu erschließen“, schreibt Gómez Valderrama in seinem Roman.
Einst starke Arterien, die der Kommunikation mit dem Land und der Welt dienen sollten, ziehen sich die Wege heute als dünne Fäden durch ein Labyrinth der Natur und vergangener Zeiten. Ein solches Fadenstück verbindet den Touristenort Barichara mit Guane, dem früher wichtigsten Stützpunkt der Indigenen in der Region. Ein anderes Stück führt bergab von La Mesa de los Santos nach Jordán, einem Geisterort am Ufer des Río Chicamocha. Insgesamt wird das Wegenetz zwischen Ortschaften und Gehöften in der weiten, kargen Landschaft auf 800 bis 1.300 Kilometer geschätzt; sein Zustand, meist mangelhaft, ist unterschiedlich.
Weg in Barichara, Kolumbien
| Foto (Ausschnitt): © Camilo Marconi
Kann es sein, dass das touristische Potenzial der Wege des Geo von Lengerke unterschätzt wurde, ganz zu schweigen von ihrem historischen und kulturellen Wert? Warum hat man nie daran gedacht, gerade nach der Erklärung des Wegstücks Barichara-Guane zum nationalen Kulturerbe im Jahr 1977, die Anerkennung auf den ganzen Wegekomplex zu erweitern?
Die Wege verzweigen sich
Worum sich die Politik nicht kümmert, darum kümmert sich bisweilen die Kunst. Kürzlich zeigte die Galerie La Mutante in Santanders Hauptstadt Bucaramanga die Gemeinschaftsausstellung Viaje a pie („Reise zu Fuß“), ein Artist-in-Residence-Projekt, das sich von dem gleichnamigen Buch des kolumbianischen Autors Fernando González inspirieren ließ. Die Kunst hat im Wesentlichen nicht die Pflicht, sich zu äußern. Und manchmal tut sie es. So lief man nicht nur von Lengerkes Pfaden nach, sondern erforschte, analysierte, fühlte sie und gab ihnen durch künstlerische Elemente eine neue Bedeutung.Kunstwerk von Mariángela Aponte | Foto (Ausschnitt): © Mariángela Aponte Die Künstlerin Mariángela Aponte benutzte für ihre Arbeit Stücke, die sie entlang des Weges fand: Fossilien erinnern an einen fernliegenden Ozean; Pflanzen sprießen zwischen den Trümmern; die Trümmer, ungewöhnliche Stücke aus massivem Stein, widersetzen sich dem rauen Klima und der Vergesslichkeit der Menschen. Es waren Puzzleteile, chaotisch verstreute Fragmente, aber auch stillschweigende Hinweise auf eine andere Geschichte: „Die Landschaft Santanders ist von ungezähmter Schönheit, eine Wanderung ist zweifellos beschwerlich; das Klima und die steilen Wegstrecken werden dem Wanderer zur Bürde. Wie hat man in einem so wüsten Gelände die Wege gebaut? Unter jedem Stein ruht eine ruhmreiche Geschichte, aber zugleich viel Schmerz.“
Anhand ihrer Bild- und Tonaufnahmen entwickelte die Künstlerin eine Serie von „hyposonoren Landschaften“: Fotografien, auf denen Kupferdrähte befestigt wurden, die als Hörrohre dienten. Das Werk lud den Besucher ein hineinzuhorchen, um klanglich eine Landschaft nachzuempfinden, die er „mit brüchiger Aufmerksamkeit und vager Erinnerung“ vernimmt („Anweisungen, um einer hyposonoren Landschaft zuzuhören“ von Mariángela Aponte). Klang und Bild sind Türen zu einem entfernten Augenblick, einem Wegstück, dass man ging und sich nun vorstellt.
Der Künstler Daniel Ifanger wanderte mit seiner Kamera auf den Schultern. Das Ergebnis war ein zehnminütiges Video, das eintauchen lässt in die verschiedenen Mikrouniversen, denen er auf seinem Weg begegnete. „Es gefiel mir, unterwegs Leute kennenzulernen, vor allem waren es Bauern. Viele Lebenswege, Erfahrungen, die sich kreuzen“, bemerkte Ifanger. Der Künstler fing mit seiner Kamera ebenso zarte wie schwer beeindruckende Existenzen ein: einen Blitz, die Veränderung des Lichts, die Bewegung der Blätter im Wind, den Kampf zweier Ziegenböcke um eine Geiß, einen Mann mit einem Radio, der sein Lämmchen weidet und vor der Kamera einen Tanz aufführt. Bilder einer Atmosphäre, als wäre sie Gegenwart, fragmentarisch, prismenhaft. „Ich kam mit einem Gefühl, einem Geschmack zurück, aber ich wusste, dass es noch viel mehr zu entdecken gab.“
Zwei weitere Künstler schlugen einen anderen kreativen Weg ein. Dem Heldenbild von Lengerkes, wie er unter den Bewohnern der Region weiterlebt, gegenübergestellt, wollten sich Christian Díaz und Camilo Marconi mit der anderen Version der Geschichte beschäftigen. So reflektiert Díaz – selbst Deutscher mit kolumbianischer Herkunft – über das Bild des europäischen Abenteurers und Eroberers. Als Referenz dient ihm dabei die Skulptur des Walking Man in München, die er in die Landschaft Santanders versetzt. Camilo Marconi wiederum fand in der Collage die beste Art, ironisch und schlagkräftig die Widersprüche und Wutausbrüche des hochmütigen Eroberers darzustellen.
Dieses Artist-in-Residence-Projekt steht in einer Reihe von Vorhaben und Initiativen, die sich dafür einsetzen, die Wege wieder zu benutzen und ihren identitätsbezogenen Wert zu ergründen. Es sind Hommagen an anonyme Frauen und Männer, die sich auf Wagnisse einlassen und zu einer lebendigen Kultur beitragen. Dort, „wo man die Berge Messer und die Wege Tigerstreifen nennt“, befindet sich noch immer ein wichtiges Wurzelwerk unserer Geschichte. Was unser Verständnis der Wege von Lengerkes und ihre Bedeutung für die kolumbianische Geschichte betrifft, müssen wir jedoch, eingedenk der Worte Nietzsches, „noch eine gute Strecke Wegs immer steigen, langsam, aber immer weiter um einen recht freien Ausblick über unsre alte Kultur zu haben“.