Die Puderzuckerwinde der ungarischen Provinz hat sie verlassen und sich zu einer renommierten Schriftstellerin aufgeschwungen: Terézia Mora schreibt von Ausgegrenzten, Suchenden, Liebenden. Und wurde 2018 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.
Manchen Menschen ist ihre Heimat keine Heimat. Sie brechen auf, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie ankommen und der Fremdheit entkommen können. Sie fliehen vor der Unerträglichkeit. Terézia Mora weiß um solche Fluchten.
Mora, in Ungarn geboren, ist in Berlin angekommen, und eine der bedeutendsten Autorinnen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie schreibt schonungslos, dringlich, ohne dabei ihr Mitgefühl zu verlieren. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sieht Moras Schreiben zwischen „eminenter Gegenwärtigkeit und lebendiger Sprachkunst“ und verlieh der Schriftstellerin dafür im Herbst 2018 den Georg-Büchner-Preis, die mit 50.000 Euro höchstdotierte Auszeichnung für Literatur in Deutschland.
AUF EINEN BLICK
Terézia Mora wird 1971 geboren, sie ist verheiratet und Mutter einer Tochter. Ihr Weg beginnt in Sopron, einer 60.000-Einwohner-Stadt in der ungarischen Region mit dem lyrischen Namen Westtransdanubien. Sopron liegt im nordwestlichsten Zipfel Ungarns und ist umschlossen von Österreich; nach Budapest ist es dreimal so weit wie nach Wien. Aber zwischen Österreich und Moras Heimat zog sich der Eiserne Vorhang.
Moras Familie ist Teil der deutschsprachigen Minderheit. Sie wächst zweisprachig auf und fasst, wie sie erzählt, bereits als Kind den Entschluss, „keinen Tag länger hier in diesem Dorf zu bleiben, als es das Gesetz verlangt“. Als Europa 1990 mit einem Mal ein anderes wird, zieht Mora nach Berlin und bleibt als gebürtige Ungarin auch dort Teil einer Minderheit. Sie studiert Hungarologie und Theaterwissenschaften und besucht die Deutsche Film- und Fernsehakademie. Sie übersetzt aus dem Ungarischen. Und sie beginnt, zu schreiben.
„PUDERZUCKERWINDE UND SCHMELZENDER STRASSENTEER“
Neun Jahre später veröffentlicht sie ihr erstes Buch: den Erzählband
Seltsame Materie. Die darin enthaltene Erzählung
Der Fall Ophelia wird mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet – Mora ist angekommen im literarischen Geschäft. In der prämierten Erzählung beschreibt sie eine Kindheit im Osten: „Zehn Monate im Jahr Dauerregen, Wind und Melassegeruch und Fabrikruß, der auf die Weißwäsche fällt. Der Rest ein weißer Sommer, Puderzuckerwinde und schmelzender Straßenteer.“ Und sie thematisiert die Hürden, die die Zugehörigkeit zu einer anderssprachigen Gruppe mit sich bringt: „Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist.“ Dieses Irgendwo-Dazwischen, das einem jungen Mädchen wie eine schwer zu ertragende Bürde vorkommen muss, hat Mora geprägt – und ihr ihre Sprache gegeben. Osteuropa, sagt sie einmal, habe sie in ihren Instinkten.
Kindheitsbilder aus der ungarischen Provinz ziehen sich ebenso durch ihr Werk wie das Straucheln und Treiben in einer unergründlichen Stadt, dem Mora ihren ersten Roman widmet. 2004 erscheint
Alle Tage, die Geschichte von Abel Nema, der aus Europas Osten in eine deutsche Großstadt flieht. An ihm haftet der Geruch der Fremdheit, findet seine Braut. Und diese Fremdheit scheint den Protagonisten davon abzuhalten, jemals wirklich ankommen zu können, in einer Beziehung so wenig wie in einer Stadt, einem Land und einer Gesellschaft. An Mora dagegen heftet sich der literarische Erfolg: Ihr Romandebüt beschert der Autorin den Preis der Leipziger Buchmesse.
2009 erscheint ihr nächstes Werk: In
Der einzige Mann auf dem Kontinent lernt die Leserschaft Darius Kopp kennen. Der wenig heldenhafte Held ist in der DDR aufgewachsen, Vertreter einer US-amerikanischen IT-Firma, übergewichtig, verheiratet und – wie jeder – auf der Suche nach dem Glück. Mora widmet sich in diesem Roman den Eitelkeiten und Unsicherheiten eines mittelalten Mannes. Und die Gefühle ihrer Leser*innen dürften zwischen Scham und Mitleid changieren in Anbetracht dieses immer schwitzenden Darius Kopp.
DER BUCHPREIS FÜR EINEN „VIRTUOSEN NEKROLOG“
In
Das Ungeheuer, Moras drittem Roman, begegnet man ihm erneut. In der Zwischenzeit hat sich Kopps Ehefrau das Leben genommen, er hat seinen Job verloren und begibt sich auf eine Odyssee durch Ost- und Südosteuropa. Die Buchseiten halbiert ein schwarzer Balken, der obere Teil umfasst die Schilderung der Irrfahrt des Darius Kopp durch das Leben, im unteren sind Notizen seiner verstorbenen Frau zu lesen, die mit dem Ungeheuer Depression zu kämpfen hatte. Mit diesem Kniff – sie nennt es „Störmanöver“ – trennt Mora sinnbildlich die Unterwelt vom irdischen Dasein. Man kann es künstlich finden, doch die Kritik ist vom zweiten Teil der geplanten Trilogie angetan und ehrt Mora 2013 für diesen „stilistisch virtuosen Nekrolog“, wie es die Jury erklärt, mit dem Deutschen Buchpreis.
Auf dem Seil ist 2019 Moras vierter Roman, und darin IT-Experte Darius Kopp mit der Asche seiner verstorbenen Frau unterwegs durch Europa. Auf Sizilien begegnet er seiner 17-jährigen Nichte – sie sind aufeinander angewiesen, und zusammen gehen sie zurück nach Berlin. Kopp begeht den Balanceakt, sein Glück an den Dingen zu messen, die man verändern kann – oder eben nicht.
DER FREMDHEIT ENTKOMMEN
Moras Figuren scheitern und scheitern wieder. Sie sind allein und grenzen sich beim Versuch, der Fremdheit zu entkommen, weiter aus. In schillernden Bildern und mit sprachlicher Finesse begleitet Mora die verzweifelte Suche ihrer Protagonisten nach Zugehörigkeit. Im Erzählband
Die Liebe unter Aliens führt sich dieser Kampf fort. Angekündigt hat Mora diesen schon in ihrem Romanerstling, in dem sie programmatisch schrieb: „Panik ist nicht der Zustand eines Menschen, Panik ist der Zustand dieser Welt.“ Und der Wunsch, diesem Zustand zu entfliehen, ist universell.