Jerusalem, Paris
Eva Illouz, Soziologieprofessorin
Die Coronavirus-Generation, die hautnah erlebt wie ein Zusammenbruch der Welt aussehen könnte, wird wissen, dass sie die Welt besser beobachten muss. Wenn sie das nicht tut, wird kein öffentliches oder privates Interesse mehr existieren, das zu verteidigen es gälte.
Von Eva Illouz
Was versinnbildlicht für Sie die aktuelle Situation persönlich oder in ihrem Land?
Menschen sind außerordentlich anpassungsfähig. Am Anfang fühlte ich mich wie in Lars von Triers Film Melancholia (2011), in dem der Zuschauer mit einer Mischung aus Entsetzen und Machtlosigkeit langsam zu begreifen beginnt, dass die Welt vor dem Untergang steht, weil sie mit dem Planeten Melancholia kollidieren wird. Am Ende des Films verfolgt der Zuschauer gebannt und gelähmt die Bahn des Planeten, die zu seinem Aufprall auf der Erde führen wird. Zuerst war er ein weit entfernter Punkt am Himmel, dann wird er zu einer immer größer werdenden Scheibe, und zuletzt bedeckt er die gesamte Leinwand und kollidiert mit der Erde.Nun, da wir alle von einem Weltereignis erfasst werden, dessen Ausmaß wir noch nicht vollständig begriffen haben, habe ich nach Analogien gesucht und mich an die Schlussszene von Lars von Triers Film erinnert.
Ich las das erste Mal in der zweiten Januarwoche 2020 in der amerikanischen Presse von einem seltsamen Virus und sah mir das genau an, weil mein Sohn nach China reisen sollte. Das Virus war noch weit weg – wie die ferne Scheibe eines bedrohlichen Planeten. Mein Sohn sagte seine Reise ab, aber die Scheibe setzte ihren unausweichlichen Weg fort und stürzte langsam auf uns in Europa und im Nahen Osten hinein. Zusammen mit vielen anderen schaute ich zu, wie die Welt stillgelegt wurde. Das Coronavirus ist ein planetares Ereignis einer Größenordnung, die wir kaum fassen können – nicht nur wegen seines weltweiten Ausmaßes, nicht nur wegen seiner Ansteckungsgeschwindigkeit, sondern auch, weil Institutionen, deren gigantische Macht wir nie infrage gestellt haben, innerhalb nur weniger Wochen in die Knie gezwungen wurden. Für mich persönlich ist das Leben jetzt, da sich die Lage stabilisiert hat, stark beeinträchtigt und gleichzeitig fast unverändert. Ich bin Wissenschaftlerin und als solche daran gewöhnt, lange Zeit in einem Zimmer zu sitzen, zu lesen und zu schreiben. Räumliche Einschränkung ist für mich eine sehr vertraute Erfahrung. Gleichzeitig lebe ich auf zwei Kontinenten, in Frankreich und Israel, und das Virus hält mich in einem dieser Länder fest. Ich fühle mich, als sei ich von meiner anderen Hälfte getrennt.
Was Israel betrifft, stellt die Coronakrise auf nationaler Ebene die schwerwiegendste Krise in der Geschichte des Landes dar, denn sie ist eine zugleich gesundheitliche, wirtschaftliche und politische Krise. Israel ist das einzige Land, in dem ein abgewählter Premierminister – Benjamin Netanjahu – eine Seuche dazu benutzt hat, sich dem Gesetz und den Wahlergebnissen zu entziehen.
Ich gestehe, dass ich zu Beginn der Krise von der Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit der von den Israelis unternommenen Maßnahmen beeindruckt war und mir sagte, es sei besser, zu viel zu tun, um Leben zu retten, als ein Übermaß an unbekümmertem Optimismus an den Tag zu legen, wie das in Frankreich oder Großbritannien der Fall war. Im Vergleich, so fand ich, zeigte Israel Verantwortungsbewusstsein und Ernsthaftigkeit. Aber dann begannen die politischen Ereignisse ins Rollen zu kommen und mir wurde langsam klar, dass Netanjahu die Krise auf unfassbar zynische Art dazu benutzte, dem Gesetz und dem Ergebnis der verlorenen Wahl zu entrinnen.