Fotoreportage
Arm sein in Berlin und Bogotá
In zwei Ländern, die so verschieden sind wie Kolumbien und Deutschland, scheinen die Armut und deren soziale Folgen, wenn man es ganz genau betrachtet, gar nicht so unterschiedlich zu sein.
Laut der Weltbank leben Menschen in „absoluter Armut“, wenn sie es sich nicht leisten können, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen: d.h. Wohnung, Ernährung, Gesundheitsversorgung und Trinkwasser. Quantitativ spricht man von einem Einkommen, das unter 1,25 Dollar pro Tag liegt. Auf der ganzen Welt leben ca. 1,2 Milliarden Menschen in absoluter Armut. Und in Ländern wie Kolumbien erreichen die Zahlen erschreckende Ausmaße. In Wohlstandsgesellschaften, wie der deutschen, gibt es kaum absolute Armut. Und dennoch kann die finanzielle Benachteiligung zu einer sozialen Ausgrenzung führen, die genauso besorgniserregend ist wie in den Entwicklungsländern. Einige Eindrücke von ganz unten.
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Auf der Straße schlafen.368.200 Bogotaner leben laut Informationen des Nationalen Amts für Statistik (DANE) in absoluter Armut oder Obdachlosigkeit. In ganz Kolumbien betrug der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, im Jahr 2012 10,4 %.
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Hilfe.Man muss in Deutschland nicht auf der Straße schlafen. Das ist ein häufiges Vorurteil, das nur zum Teil stimmt. Arbeitslose können Arbeitslosengeld beziehen, das ihnen auch eine moderate Miete bezahlt. Viele sind aber mit der Selbstversorgung oder Wohnungssuche überfordert und können sich kein eigenes Heim halten. Diese Personen haben immer noch ein Anrecht auf einen Schlafplatz in einem Wohnheim – doch die Plätze sind begrenzt.Die Zahl der Obdachlosen in Berlin, einer Stadt mit 3,4 Millionen Einwohnern, wird auf 11.000 geschätzt. Im Sommer schlafen sie im Stadtraum, im Winter gibt es für sie ca. 20 Notunterkünfte. Hier kann jeder übernachten, der es möchte. Mittlerweile sind aber die Noteinrichtungen überfordert mit der steigenden Zahl der Hilfesuchenden. Die Berliner Stadtmission in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs, zum Beispiel, verfolgt das Ideal, niemanden wegzuschicken. Sie ist aber deswegen oftmals mit bis zu 300 Prozent ausgelastet.
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Beton und Leere.In Deutschland beginnt Armut bei einem Monatseinkommen von 869 Euro für Singles und 1.826 Euro für eine Familie mit zwei Kindern. Dies nennt man „relative Armut“, weil sich die Grenze am mittleren Einkommen orientiert. In Berlin, einer der ärmsten Städte Deutschlands, ist jeder Fünfte von Armut bedroht, die Arbeitslosigkeit betrug Anfang 2013 11,9 Prozent.„Gentrifizierung“ wird häufig im Zusammenhang mit Armut in Berlin erwähnt: der Prozess, dass einkommensschwache Bürger aus beliebten Wohngegenden der Stadt aufgrund steigender Preise verdrängt werden. Seit der Wende hat sich zum Beispiel im Berliner Viertel Prenzlauer Berg die Bevölkerung zu 80% ausgetauscht. Eines der billigeren Randgebiete im Osten ist Marzahn-Hellersdorf mit seinen berüchtigten Plattenbausiedlungen, die oft – nicht selten zu Unrecht – mit Arbeitslosigkeit und sozialer Verwahrlosung in Verbindung gebracht werden.
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Vom Müll leben.In einer Stadt ohne offizielles Recyclingsystem sind Abfälle wertvoll. In Bogotá gehören die sogenannten „Recicladores“ zum täglichen Stadtbild: ganze Familien, die auf den Straßen recyclingfähiges Material einsammeln und damit – ohne dass es von den Einwohnern wahrgenommen, geschweige denn geschätzt wird – einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz leisten. Edgar, 54 Jahre alt, begann vor 20 Jahren, nachdem die Polizei seine Waren, die er als fliegender Händler auf den Straßen von Bogotá anbot, beschlagnahmt hatte und ihm damit jegliche Existenzgrundlage entzog, seinen Lebensunterhalt mit Recycling zu verdienen. Mit Plastiksammeln kann man in Bogotá zwischen 10.000 und 20.000 Pesos (4-8 Euro) verdienen. Gemessen an den sehr hohen Lebenshaltungskosten in der Stadt, ist diese Summe unmöglich ausreichend, um nur die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Vom Müll zu leben beutet, gerademal zu überleben.
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>25 Cent.Auch in Deutschland wird aus dem Müll gefischt. Seit Einführung des Flaschenpfands 2003 – man bekommt für Glasflaschen 8 Cent, für Plastikflaschen bis 25 Cent – hat sich in Deutschland das informelle Flaschensammeln stark verbreitet. „Am Anfang waren es Obdachlose, dann Hartz-IV-Empfänger. Mittlerweile sammeln normale Rentner die Flaschen. Sie haben es von den Obdachlosen abgeschaut“, erklärte kürzlich eine Sozialpädagogin in einer Berliner Zeitung. In Berlin gibt es immer mehr Altersarme, denen schlichtweg ihre Rente nicht reicht.
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Ganz anders.Die sozialen Unterschiede in Kolumbien sind gravierend, Reichtum und extreme Armut existieren nebeneinander in parallelen Welten an ein und demselben Ort. Um die Einkommensungleichheit in einem Land zu messen, wurde der „Gini-Koeffizient“ eingeführt: 0 markiert die perfekte Gleichverteilung (alle Bürger haben das gleiche Einkommen), 1 entspricht der absoluten Ungleichverteilung (eine Person hat alles, die anderen nichts). Der Gini-Koeffizient für Kolumbien lag im Jahr 2012 bei 0,54; für Deutschland bei 0,31.
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„Gefühlte Armut“nennt die Weltbank jene Art von Armut, die sich nicht direkt an Einkommensgrenzen festmachen lässt. Der Begriff bezieht sich auf Menschen, die sich, aufgrund gesellschaftlicher Ausgrenzung oder Diskriminierung als „arm“ betrachten oder in Angst vor einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage leben.
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Ewige Ausbeutung.Millionen von Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern haben informelle Arbeiten: Straßenverkäufer, Hilfskräfte in Restaurants und Hotels, die sozusagen selbstständig arbeiten, aber ohne sichere Verträge, außerhalb des legalen Rahmens und normalerweise ohne Recht auf Gesundheitsversorgung und Rentenversicherung. In Kolumbien leben mehr als 50% der arbeitenden Bevölkerung unter diesen Bedingungen, laut offiziellen Angaben (die Gewerkschaften sprechen von einem weitaus höheren Anteil). Das sagt viel aus über die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und die sozialen Kontraste in Kolumbien: die Hälfte der informellen Arbeiter in Kolumbien verfügt über einen Schulabschluss, 58% von ihnen sind Frauen.
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Hässliche Worte, echte Herausforderungen.Seit Anfang 2014 dürfen Rumänen und Bulgaren uneingeschränkt in Deutschland Arbeit suchen. Die CSU warnte vor den Folgen der sogenannten „Armutsmigration“ und beschwor das Ende des Sozialstaats herauf: diese Menschen würden nur kommen, um staatliche Leistungen zu beziehen. Die Realität ist komplexer. Jeder EU-Bürger hat das Recht in Deutschland zu arbeiten und es gibt für den Bezug von Sozialleistungen Grenzen für jeden EU-Bürger aus dem Ausland. Die Herausforderungen sind real – und beträchtlich. Es wird geschätzt, dass im Jahr 2014 180.000 Rumänen und Bulgaren nach Deutschland ziehen werden – und dort leider unter oft äußerst prekären Bedingungen leben.
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Der Körper als Währung.Prostitution wird nicht immer unbedingt mit Armut assoziiert. Aber in Bezirken der weiblichen und transgender Prostitution, wie dem gefürchteten Stadtviertel Santafé in Bogotá, ist das Leben aggressiv und schwierig. Die Statistiken sind nicht vertrauenswürdig: Prostitution gilt hier nicht als Arbeit, die sozial akzeptiert ist. Ihr Randcharakter stellt eine Gefahr für die Gesundheit dar und bringt Risiken mit sich, genauso wie Gewalt. Die aktuelle Stadtregierung hat einiges unternommen, um die soziale Inklusion besser voranzutreiben und die Prostitution angemessen zu regulieren. Trotzdem gibt es noch viel zu tun.
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Frauen.Es gibt deutlich weniger obdachlose Frauen als Männer in Deutschland. Die Situation der Frauen ist aber im Allgemeinen viel prekärer. Laut der Bundesagentur für Arbeit leben in Deutschland 40 Prozent aller alleinerziehenden Mütter von Arbeitslosengeld II. Ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt wird dadurch erschwert, dass sie kaum Familie und Beruf vereinbaren können, aber auch dadurch, dass potentielle Arbeitgeber häufig Vorurteile gegenüber alleinerziehenden Frauen haben.Auch im Alter sind Frauen häufiger von Armut betroffen, da sie, wenn sie weniger gearbeitet haben, auch weniger Rente beziehen. So hätte eine Person nach 45 Jahren in einem „Minijob“ (oder 450-Euro-Job“), im Alter nur Anspruch auf 140 Euro Rente im Monat – was in Deutschland keinesfalls zum Leben reicht. Derzeit haben in Deutschland etwa 7 Millionen Menschen einen Minijob. Davon waren Mitte 2011 knapp 4,65 Millionen Frauen.
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Lebensqualität.Bis wohin reicht der Begriff „Armut“? Wenn auch die offizielle Arbeitslosenquote in Bogotá Ende des Jahres 2013 bei 7,8% lag, so verdient ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung lediglich den Mindestlohn (der bei monatlich 616.000 Pesos liegt, was ungefähr 225 Euro entspricht). Die Gewerkschaften bezeichnen den Mindestlohn als viel zu gering und unangemessen, betrachtet man nicht nur die hohen Lebenshaltungskosten in Bogotá, sondern auch das Wirtschaftswachstum des Landes. Nach offiziellen Angaben leben in Bogotá fast 12% der Menschen in Geldnot.Tausende berufstätige Menschen sind in Bogotá täglich auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Die größte Verkehrsgesellschaft mit geräumigen Bussen und festen Haltestellen TransMilenio befördert jeden Tag 2.6 Mio. Fahrgäste. Wie jedoch bei jeder Fahrt im Berufsverkehr bestätigt wird, genauso wie durch die wiederholten Demonstrationen der Bürger auf den Routen und an den Haltestellen dieses Verkehrssystems – ein System, das erst im Jahr 2000 eingeweiht wurde – hat TransMilenio große Probleme und scheint schon nicht mehr ausreichend für diese Stadt zu sein. Nach neuesten Umfragen sind 60,5% der Fahrgäste mit dem Transportsystem unzufrieden.
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Das Labyrinth der Einsamkeit.In Deutschland braucht niemand, dank der staatlichen Unterstützung für Arbeitslose, zu hungern. Das persönliche Drama aber, das das „Arm-Sein“ mit sich bringt, ist dasselbe wie überall in der Welt: die gesellschaftliche Marginalisierung. Viele Obdachlose halten sich in Berlin in den U-Bahnhöfen auf. Hier haben sie ein Dach über dem Kopf und in den Bahnhöfen hat sich eine Schattenwirtschaft entwickelt, die auf dem Verkauf von Obdachlosenzeitungen und bereits entwerteten aber noch gültigen Fahrscheinen beruht. Die U-Bahnhöfe sind aber von allem eins: Räume des ständigen menschlichen Durchgangs, wo einsame Arme – sei es nur flüchtig – ihrer Einsamkeit entkommen können.