Floating Collections
Bibliotheksbestand auf Wanderschaft
Medienbestände rotieren frei durch die Zweigstellen von Bibliothekssystemen, gesteuert vom Ausleihverhalten der Leser. In Deutschland sammeln die Hamburger Bücherhallen erste Erfahrungen mit den umlaufenden Beständen.
Umlaufende Medienbestände sind vor allem in Bibliothekssystemen mit mehreren Standorten in Großstädten sinnvoll: Ein Teil des Bestandes ist nicht mehr einer speziellen Zweigstellenbibliothek zugeordnet, sondern gehört zum Gesamtsystem. Die Medien finden sich durch das Ausleih- und Abgabeverhalten der Kundinnen und Kunden automatisch an den Standorten wieder, an denen es die größte Nachfrage dafür gibt. Öffentliche Bibliotheken in den USA praktizieren die sogenannten Floating Collections schon seit längerem. Als erste Bibliothek in Deutschland sammeln nun die Hamburger Bücherhallen Erfahrungen mit den umlaufenden Beständen.
Petra Meier-Ehlers, die Leiterin der Zentralbibliothek der Hamburger Bücherhallen, nahm 2008 auf Einladung des Goethe-Instituts am Residenzprogramm Librarian in Residence in New York teil. Dort wurde sie auf das Projekt Floating Rotation der Brooklyn Library aufmerksam. Die Kunden konnten ausgeliehene Bücher in jeder der 60 Zweigstellen zurückgeben. Die Medien wurden anschließend nicht mehr an den Ursprungsstandort zurückversandt, sondern verblieben am Rückgabeort. Auch im internen Leihverkehr wurden aus anderen Standorten bestellte Medien nicht mehr zurückgeschickt. Nach einiger Zeit formten die Lesevorlieben der lokalen Bevölkerung den Bestand der jeweiligen Zweigstelle. Auf diese Weise erhielten die Bibliotheken Informationen über signifikante Muster im Kundenverhalten. Sie konnten Veränderungen und Migrationsbewegungen innerhalb Brooklyns früher wahrnehmen und darauf reagieren. Durch den Umlauf der Bestände sparten sie aufwendige Arbeitsschritte und hatten mehr Zeit für die Kunden. Es fielen weniger Transportkosten zwischen den Zweigstellen an.
Testphase in Hamburg
Das Prinzip der Floating Collections überzeugte Petra Meier-Ehlers, und sie nahm die Idee nach Hamburg mit. Im Herbst 2014 war es dann soweit: Die Bücherhallen Hamburg mit 32 Standorten setzten in einer Testphase zwei unterschiedliche Bestandssegmente – russische und englische Medien – in den Umlauf. Ziel war es, herauszufinden, wie sich diese Bestände durch die Kundennutzung neu verteilen.Die Rotation der russischen Medien sollte russischsprechende Communities in Hamburg besser lokalisieren und ansprechen. Nach der Floating-Phase war abzulesen, dass die russischen Bestände in zehn Bibliotheken am meisten genutzt wurden. Diese Standorte erhielten zur Aktualisierung zusätzliche Titel.
Populäre englische Romane sollten englische Muttersprachler und Englisch lesende Kundinnen und Kunden erreichen. Mit dem Umlauf wollte man ein flächendeckendes englischsprachiges Angebot machen. Wie Frauke Untiedt von den Hamburger Bücherhallen berichtet, verlief auch dieser Test erfolgreich: Die Ausleihzahlen waren positiv, die Bestände verteilten sich durch das Abgabe- und Bestellverhalten der Leser gut im System, und es musste nicht nachgesteuert werden. Auf Wunsch von Lesern wurden zudem Titel höherer literarischer Qualität im Angebot ergänzt.
Nach der Testphase mit russischer und englischer Belletristik sind nun auch Spielfilme auf DVD zur Rotation durch die Bücherhallen Hamburg freigegeben. Auch ein Kinderbuchbestand und Kriminalliteratur würden sich als rotierender Bestand eignen. Während bei der Rotation fremdsprachlicher Medien der Service für besondere Nutzergruppen im Fokus steht, soll das Floaten von populären Medien vor allem neuen Schwung in die Bestände bringen – gesteuert durch das Nutzerverhalten der Leserinnen und Leser.
Bedeutung für die Bibliotheken
Bislang sind die Hamburger Bücherhallen Vorreiter in Deutschland. Doch die Idee stößt auf Resonanz: Öffentliche Bibliothekssysteme wie die Büchereien Wien mit 39 Zweigstellen und die Städtischen Bibliotheken Dresden mit 23 Standorten haben bereits bei den Hamburgern zum Thema Floating nachgefragt. Denn die Vorteile der umlaufenden Bestände für Bibliothek und Nutzer liegen auf der Hand. Die Erfahrungen aus den USA und aus Hamburg zeigen, dass die Rotation den Medienumsatz erhöht und Logistikzeit sowie Kosten spart. Durch den Umlauf erneuert sich der Bestand einer Zweigstelle teilweise fast von alleine, er wird vielfältiger und bietet damit auch den Kunden mehr Abwechslung. Doch die verstärkte Nutzersteuerung des Medienbestandes bringt auch Unwägbarkeiten mit sich. Bisher war der Bestandsaufbau in Hamburg Sache der Zweigstellen. In Teilen liegt diese Aufgabe nun auch bei den Nutzern. Was in den einzelnen Zweigstellen steht, wird auch durch die Leserinnen und Leser bestimmt. Damit verlieren die Bibliothekare die absolute „Hoheit“ über den eigenen Bestand. Bibliothekare in den USA befürchten außerdem, es könne schwieriger werden, die Nutzer zu beraten, weil der Überblick über einen sich ständig ändernden Bestand fehle.Andererseits lernen Bibliothekare durch die Floating Collections die Bedürfnisse ihrer Kundinnen und Kunden neu kennen. Plötzlich tauchen neue Titel im Bestand auf. Was man früher nur durch aufwendige Umfragen herausfinden konnte, sieht man nun jeden Tag: Welche Bestandsgruppen bauen sich durch die Lesevorlieben der lokalen Bevölkerung, ohne Zutun des Bibliothekspersonals, aus? Und: Was lesen die Nutzer wirklich gern?