„Notes of Berlin“
Berliner Zettelwirtschaft
Sie schimpfen über ein gestohlenes Fahrrad oder suchen die große Liebe – Berliner kommunizieren miteinander auch über kurios anmutende Aushänge. Der Blogger Joab Nist sammelt diese Notizen, veröffentlicht sie im Internet und zeigt, wie skurril und vielfältig Berlin sein kann.
Felix fährt mit der Tram durch Berlins Mitte, im gleichen Wagen sitzt Johanna. Sie fällt ihm auf, er spricht sie an, und sie plaudern kurz miteinander, bis einer von ihnen aussteigen muss. Eine Zufallsbegegnung, wie sie sich täglich in Berlin ereignet. Doch was Johanna nicht weiß: Felix musste all seinen Mut aufbringen, um sie anzusprechen. Genau das schreibt er auf ein weißes Blatt Papier, kopiert es und hängt es im Stadtteil Prenzlauer Berg auf, um Johanna ausfindig zu machen: „Ich wäre der glücklichste Felix im ganzen Prenzlberg wenn wir uns wiedersehen.“
Notizen aus dem wahren Leben
Joab Nist | © Leon KopplowAls der Neuberliner Joab Nist, Jahrgang 1983, gebürtiger Münchner, 2004 durch die Schönhauser Allee läuft, sieht er einen von Felix’ Zetteln und ist gerührt. „Ich konnte mich mit dem Gesuch identifizieren, weil mir selbst mal ein Mädchen in der U-Bahn aufgefallen ist, und mich nicht getraut habe, sie anzusprechen“, erinnert sich Nist. „Also, was macht man in der anonymen Großstadt, um jemanden zu finden? Man schreibt halt einen Zettel.“
Fortan läuft Joab Nist durch Berlin und sammelt solche Notizen, die an Ampeln, Laternenmasten, in Hauseingängen, der Universität oder Bars hängen. Es sind Aushänge, mit denen Berliner ihre Liebe für jemanden kundtun, den Dieb ihres Fahrrads verwünschen, sich bei ihren Nachbarn beschweren oder eine neue Wohnung suchen. Meist sind die Zettelbotschaften witzig und skurril, manchmal verzweifelt oder verärgert. Auf einigen hinterlassen Passanten oder Nachbarn einen Kommentar.
Wütend, romantisch und direkt
Bald will Nist die gesammelten Aushänge mit anderen teilen. Er entwirft 2010 das Weblog „Notes of Berlin“ und veröffentlicht dort täglich verschiedene Zettelnachrichten. „Die meisten sind zwar skurril, aber sie müssen nicht unbedingt lustig sein, um es auf das Blog zu schaffen. Mir geht es darum, die Vielfältigkeit Berlins abzubilden, Einzelschicksale zu zeigen und die Stimmung der Stadt einzufangen“, erklärt Nist.Joab Nist ruft die Nutzer seines Blogs auf, ihm ihre eigenen Fundstücke zuzuschicken. Schnell wächst die Seite zu einem Gemeinschaftsprojekt und wird ein umfassendes „Zettel-Archiv“. Verlage werden auf das Projekt aufmerksam, 2012 erscheint das erste Taschenbuch mit den besten „Notes of Berlin“. Kulturwissenschaftler Nist beschäftigt sich in seiner Masterarbeit an der Freien Universität Berlin mit den Aushängen, während die Facebook-Seite zum Blog stetig wächst. Ende Dezember 2015 hat sie mehr als 100.000 Fans. Mittlerweile hat Nist drei Bücher sowie einen Jahreskalender herausgebracht. Aus seinem Hobby hat er einen Beruf gemacht, von dem er inzwischen leben kann.
Zettel zeigen den Wandel der Stadt
Anhand seiner Sammlung lässt sich nicht nur der Charakter Berlins und seiner Bewohnerinnen und Bewohner erkennen – laut und wütend, idealistisch, manchmal naiv und romantisch, aber immer direkt. Die Notizen zeigen auch, wie sich Berlin in den vergangenen Jahren verändert hat. „Als ich angefangen habe, gab es viele Einsendungen zum Thema ‚Schwabenhass‘, sagt Joab Nist. „Die Zugezogenen aus Süddeutschland, die den Prenzlauer Berg eroberten, wurden oft dafür verantwortlich gemacht, dass Clubs schließen mussten und Bioläden aus dem Boden sprießten.“ Heute erregen Gentrifizierung und steigende Mietpreise die Gemüter: „Es gibt viel mehr und kreativere Wohnungsgesuche, die nicht selten bei erfolgreicher Vermittlung eine hohe Belohnung anbieten. Das wäre vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen.“Ob Felix aus dem Prenzlauer Berg seine Johanna wiedergefunden hat, weiß Nist nicht. Doch seinem eigenen Leben hatte Felix‘ Zettel eine entscheidende Wendung gegeben.
Joab Nist: „Heute geschlossen wegen gestern. Die kuriosesten Zettel der Stadt“, Goldmann Verlag, 2015