Solidialogues
„Wir brauchen einen Impuls, um einander zuzuhören“

Kann Solidarität als Gegenmittel zum Populismus wirken? Eine Frage, über die rund 200 Teilnehmer*innen aus Europa und der ganzen Welt in digitalen Dialogrunden sprachen. Was die „SoliDialogues“ von einem üblichen Widerstreit der Argumente unterschied, war ihr Format, das Konfrontation durch Kollaboration ersetzen will. Warum wir das während der Pandemie so dringend brauchen, erklärt Brenno Kaschner Russo, einer der Urheber der Methodik, im Interview.
Von Brenno Kaschner Russo
In der Anleitung, die ihr den Teilnehmer*innen zur Vorbereitung auf die „SoliDialogues“ geschickt habt, steht auf der ersten Seite nur „A dialogue is not a discussion“, also: „Ein Dialog ist keine Diskussion“. Was ist falsch an einer Diskussion?
Es geht nicht um richtig oder falsch, besser oder schlechter. Eine Diskussion kann sehr gut sein. Aber sie ist eben kein Dialog. Die etymologische Herkunft des Wortes verdeutlicht das: Das Lateinische dis quatere bedeutet „auseinander schütteln“. Ein Ganzes wird in seine Teile zerlegt, und jedes dieser Teile wird einzeln betrachtet. Fast alles in unserem Bildungssystem basiert auf diesem Konzept.
Wenn ich an mein Studium zurückdenke, liefen Seminare meistens so ab: Jemand hat ein Argument, darauf reagiert jemand mit einem anderen Argument. Dann bringt auch der Professor noch eines und so weiter. In diesem Ping Pong von Argumenten hört man nur zu, um auf die Lücke zu warten, in die man mit dem eigenen „besseren“ Argument stoßen kann. Am Ende gewinnt der- oder diejenige mit dem stärksten Argument. Das ist eine analytische Übung für den Geist und mitunter sehr produktiv. Aber ich fand, dass so das konstruktive Potenzial von Gesprächen nicht ausgeschöpft wird.
Ein Dialog tut das?
Dialog kommt vom Griechischen dia logos: „durch das Wort“ oder „das Fließen von Wörtern“. Um eine Gruppe von Menschen generiert sich dynamisch ein Raum, durch den Sinn strömt. Jeder trägt etwas bei. Während eine*r spricht, hören die anderen zu. Und auch unsere Methodik – wir nennen das Format dialogues.one – setzt mehr auf das Zuhören als auf das Sprechen.
Ich habe selbst an einem der „SoliDialogues“ teilgenommen und mir weitere angesehen. Nicht alle haben gleich gut funktioniert. Und auch mir fiel es ein bisschen schwer, mich auf das reine Zuhören einzulassen.
Ich selbst muss das auch immer wieder üben. Ich höre oft zu, um antworten zu können. Ich höre nicht einfach zu, um zuzuhören. Aber wenn wir uns erlauben, das zu tun, entsteht eine andere Dynamik zwischen den Menschen, die da mitmachen. Ein Dialog ist auf eine Mitte fokussiert, die alle Teilnehmer*innen aufbauen und verstärken wollen. Es gibt dann nicht mehr den einen Beitrag, der am Ende „gewinnt“. Jeder trägt etwas für die Mitte bei und dort entsteht etwas Neues, etwas Kollektives.
Und wenn ich mit dem Beitrag eines anderen Teilnehmers überhaupt nicht einverstanden bin?
Meine persönliche Meinung gebe ich nicht auf. Aber ich kann sie vorübergehend „suspendieren“, wie David Bohm (1917 - 1992) das nennt. Bohm war eigentlich Quantenphysiker und für die Entwicklung der Methodik von dialogues.one die wichtigste Inspiration. Während seiner Forschungen beobachtete Bohm, dass einzelne Atome mehr Freiheit gewinnen, wenn sie mit einem Plasmagemisch in Berührung kommen. Das war ein Aha-Erlebnis für ihn, das er auf unser soziales Zusammenleben übertrug und daraus eine nach ihm benannte Dialogmethode entwickelte. Im besten Falle bringt ein solcher Bohm-Dialog – und das war auch eine Intention der SoliDialogues – Menschen mit unterschiedlichen Weltbildern, Idealen und politischen Meinungen zusammen, die einander zuhören, ohne dass eine*r sich mit einem Argument durchsetzt. Dabei kann manchmal etwas geschehen, was meine ursprüngliche Meinung beeinflusst und transformiert.
Du sprichst aus Erfahrung? Seit wann widmest du dich dem Dialog?
Vor etwa zehn Jahren während meines Bachelorstudiums hat ein Professor für interkulturelle Kommunikation alle seine Seminare als Bohm-Dialoge konzipiert. Das war anders als alles, was ich kannte. Ich habe sofort gespürt, wie gut ich auf diese Art lernen kann. Die Dialogstruktur hat das Potenzial der Gruppe offenbart, denn sie erlaubt es auch den leiseren Stimmen zu sprechen und gehört zu werden. Das ist in vielen Diskussionen und Debatten kaum möglich. Aber gerade in dem, was diese leiseren Stimmen beizutragen haben, liegt ein großer Wert für das Ganze, das Kollektive.
Ich habe dann meine Masterarbeit über Dialog geschrieben, das Fundament für die Methodik von dialogues.one. Dialog ist Teil meines Lebens geworden. Wenn meine Frau und ich einen Konflikt haben, nutzen wir auch dieses Dialogformat, um miteinander zu sprechen. Wir haben dann ein talking piece zwischen uns liegen und benutzen das auch wirklich.
Das sogenannte „talking piece“ ist ein Gegenstand, der der- oder demjenigen, der ihn hält, erlaubt zu sprechen. Ich muss gestehen, dass das für mich schwierig zu ertragen war. Manchmal wollte ich einen Geistesblitz mitteilen, aber ohne „talking piece“ durfte ich nicht sprechen. Als ich endlich die Gelegenheit hatte, es mir zu nehmen, war der Gedanke wieder weg oder das Gespräch schon ganz woanders.
Ein berechtigter Einwand. Meine ersten Erfahrungen mit Bohm-Dialogen, fanden in einem physischen Kontext statt. Dabei sitzen die Teilnehmer*innen in einem Kreis und das talking piece geht reihum. Das ist ein Ritual. Auch wenn ich vielleicht denke ‚Was der Typ da sagt, ist falsch und hat nichts mit dem zu tun, woran ich glaube‘ kann ich ihm einfach zuhören. Und anschließend sage ich meinen Beitrag, ohne seinen schlagen zu müssen. Das talking piece ist also vor allem ein Symbol, das den Fokus auf das Zuhören betonen soll.
Damit haben wir experimentiert, um das Dialogkonzept auch im digitalen Kontext nutzbar zu machen. Jede*r Teilnehmer*in wählt einen eigenen Gegenstand, ein eigenes talking piece. Und mit einer Geste in Richtung der Kamera bedeutet man den anderen, dass man es in die Hand nimmt und sprechen möchte. Wenn jemand im selben Moment die gleiche Geste macht, müssen sich beide einigen.
Diese Geste der Teilnehmer*innen in Richtung der Kamera hat für mich während der „SoliDialogues“ tatsächlich eine räumliche Mitte suggeriert, obwohl ich nur auf die Fläche meines Computerbildschirms geschaut habe.
Das ist die Intention. Ich habe viel Erfahrungen mit Dialogprozessen im physischen Raum und finde es großartig, das in die Onlinesphäre zu expandieren.
War das eine Reaktion auf die Kontaktbeschränkungen in der Pandemie?
Ja, genau. Aber ich sehe dafür derzeit vor allem gesellschaftspolitisch einen Bedarf. Ich habe das Geschehen während der Pandemie in Brasilien, in den USA und in vielen europäischen Ländern verfolgt und sah wie unproduktiv der Widerstreit der politischen Positionen für die Gesellschaft ist. Ich sah so klar, dass es für uns nicht das Wichtigste ist, sich für eine Seite zu entscheiden, sondern die Polarisierung zu überwinden, indem wir einander zuhören. Wir brauchen einen Impuls, der uns dazu bringt, einander einfach zuzuhören – dringend!
Das Interview führte Patrick Hamouz.
Der Physiker und Philosoph David Bohm war für Brenno Kaschner Russo die wichtigste Inspiration während der Entwicklung der Methodik dialogues.one.
| Screenshot aus dem Interview: © Patrick Hamouz & Brenno Kaschner Russo
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