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Deutscher Buchpreis
Die Krux der Longlist

Der Deutsche Buchpreis wird alljährlich auf der Frankfurter Buchmesse verliehen: Shortlist 2020.
Der Deutsche Buchpreis wird alljährlich auf der Frankfurter Buchmesse verliehen: Shortlist 2020. | Foto (Detail): © Deutscher Buchpreis

Literaturpreise sind gut und wichtig, aber nicht immer sind die prämierten Bücher auch die erfolgreichsten: ein Rückblick auf die letzten zehn Jahre Deutscher Buchpreis.

Von Matthias Bischoff

Bei den Olympischen Spielen gibt es keine Zweifel: Wer am schnellsten rennt, gewinnt die Goldmedaille. Bei einem Preis für den „besten Roman des Jahres“ ist derlei unmöglich. Die Auswahl der preisgekrönten Werke des Deutschen Buchpreises variiert zwischen zugänglich und literarisch abgehoben; und der Jury-Erfolg differiert teils deutlich vom Erfolg auf dem Buchmarkt. Ein Rückblick auf die Preisträger*innen der vergangenen zehn Jahre:

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011)

Eugen Ruge Eugen Ruge | Foto (Detail): © Claus Setzer Der Roman machte Eugen Ruge über Nacht einer breiteren Leserschaft bekannt und erzählt deutsche Geschichte einmal mehr im beliebten Gewand eines Familienromans. Ruge entfaltet mit ungeheuer vielen Personen ein Panorama des 20. Jahrhunderts, erzählt vom Exil, vom Horror der sowjetischen Straflager und von der hoffnungsvollen Gründung der DDR bis schließlich zu ihrem kläglichen Ende. 

Ein Deutschlandroman, ein raffiniertes und ambitioniertes Werk, das schnell zu einem vielgelesenen Klassiker wurde.

Ursula Krechel: Landgericht (2012)

Ursula Krechel Ursula Krechel | Foto (Detail): © Claus Setzer Auch Landgericht von Ursula Krechel erzählt in einem großen panoramischen Bogen ein typisch deutsches Schicksal im 20. Jahrhundert. Den Schwerpunkt der auf Tatsachen basierenden Geschichte des Juristen Richard Kornitzer, der in den 1930er-Jahren nach Kuba ins Exil flieht, bildet die Nachkriegszeit, als Kornitzer im vollkommen zerstörten Mainz wieder Fuß fassen will. Ursula Krechel mischt souverän Dokumentarisches und Fiktives, und trotz ihres scheinbar kühlen, distanzierten Stils wird die Tragik dieses vom Nationalsozialismus aus der Bahn geworfenen Lebens den Leser*innen bewegend nahegebracht.

Landgericht war ein würdiger Sieger. Doch 2012 war zugleich ein so starkes literarisches Jahr, dass man ein halbes Dutzend „beste Romane“ hätte küren können, was eine unlösbare Problematik des Preises zeigt: Auf einen Schlag erschienen so hochkarätige Romane wie Wolfgang Herrndorfs Sand oder Stephan Thomes Fliehkräfte, Indigo von Clemens J.Setz und Nichts Weißes von Ulf Erdmann Ziegler. Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend schaffte es ebenso wie das von der Kritik hochgelobte Debüt Der Russe ist einer, der Birken liebt von Olga Grjasnowa nur auf die Longlist. 

Terézia Mora: Das Ungeheuer (2013)

Terézia Mora Terézia Mora | Foto (Detail): © Claus Setzer Der lethargische IT-lngenieur Darius Kopp muss nach dem Selbstmord seiner Frau Flora erkennen, dass er sie kaum gekannt hat. Bei der Lektüre ihrer Tagebücher offenbart sich ihm eine Ehe, in der die beiden Partner ohne tiefere Verbindung nebeneinanderher gelebt haben. 

Der Roman begeisterte die Jury durch die Kontrastierung der beiden Stimmen und die Balance aus traurigen, aber immer wieder auch skurril komischen Szenen. Letztere sind auch oft bitter nötig, denn ganz offensichtlich hat die Autorin sehr genau studiert, was Depressionen aus einem Menschen machen, und so sind die Passagen über Flora immer wieder geradezu klinisch präzise beschrieben, was nach einer Weile doch ermüdet und bald keine neuen Erkenntnisse mehr zutage fördert.

Lutz Seiler: Kruso (2014)

Lutz Seiler Lutz Seiler | Foto (Detail): © Claus Setzer Es zählt zu den erst im Rückblick erkennbaren Kontinuitäten des Buchpreises, dass die Auseinandersetzung mit der DDR beziehungsweise ihrem Ende im Jahr 1989 in mehreren preisgekrönten Romanen eine große Rolle spielt. Anders als Eugen Ruge oder Ursula Krechel erzählt Lutz Seiler aber kein Epos, sondern wendet einen höchst wirkungsvollen Kniff an: Nicht in Berlin oder einer anderen Stadt lässt er seinen Helden Edgar das Ende der DDR erleben, sondern auf der Insel Hiddensee, wo er als Abwäscher arbeitet, ganz am Rand der DDR und der Gesellschaft also. Edgar befreundet sich mit Alexander Krusowitsch, genannt „Kruso“, und die beiden finden jenseits des Überwachungsstaats eine Art von innerer Freiheit.

Mit Kruso ist Seiler ein in der deutschen Gegenwartsliteratur selten gewordenes Kunststück geglückt: Das ist ein erkennbarer Mensch, ein Charakter mit all seinen Widersprüchen, fast wie aus einem realistischen Roman des 19.Jahrhunderts, aber dabei niemals altmodisch. Kruso ist kein Exempel, er steht trotz seiner anarchischen Züge für irgendein Prinzip, er ist einfach ein Mensch – derlei zu schaffen trauen sich Autor*innen hierzulande, anders als etwa im angelsächsischen Sprachraum, viel zu selten.

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 (2015)

Frank Witzel Frank Witzel | Foto (Detail): © Claus Setzer / Börsenverein Die Welt des kindlichen Erzählers lässt den Kosmos der alten BRD wiederauferstehen: Auf über 800 Seiten setzt sich der nicht leicht lesbare Roman aus Collagen, Fiktions- und Realitätsschnipseln, Spinnereien, erzählenden und berichtenden Teilen zusammen. Ein Mix im Kopf der 13-jährigen Hauptfigur.

Die Kritik war begeistert, die Absatzzahlen stiegen – aber ob der Textkoloss von seinen Käufer*innen auch tatsächlich gelesen wurde, sei dahingestellt. Doch kann man mit diesem Roman etwas machen, was man eigentlich bei jedem darf, doch ist es hier geradezu zwingend: Man darf ganze Kapitel überspringen oder nur oberflächlich lesen, um dann bei anderen (etwa die hinreißend eigenwillige Interpretation des Beatles-Meisterwerks „Sgt.Pepper“!) umso tiefer einzutauchen. Ein Buch wie eine Wundertüte.

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis (2016)

Bodo Kirchhoff Bodo Kirchhoff | Foto (Detail): © Claus Setzer Das Werk mit dem etwas angestrengt originellen Titel erzählt einmal mehr von einem Mann jenseits der Sechzig, der eines Abends Besuch bekommt von einer nur wenig jüngeren Frau, die ihn spontan zu einer Reise überredet. Gemeinsam fahren sie bis in den Süden Italiens. Mit dem Schicksal des alternden Kleinverlegers verknüpft Bodo Kirchhoff die Geschichte eines Flüchtlingsmädchens; etwas überkonstruiert geplottet und mit vielen Reflexionen befrachtet, lässt die Erzählung doch auf wirkungsvolle Weise zwei Wirklichkeiten aufeinanderprallen.

Dass es der voluminöse Roman Die Liebe in groben Zügen von Bodo Kirchhoff, der mittlerweile als eines seiner wichtigsten Werke gilt, 2012 nicht einmal auf die Shortlist schaffte, zählt bis heute zu den fragwürdigsten Entscheidungen der Jury. Vielleicht fiel ihr zu spät auf, was für ein Meisterwerk sie da auf die hinteren Plätze verwiesen hat. Ein etwas holpriger Versuch, diese Scharte auszuwetzen, wurde vier Jahre später unternommen, als Kirchhoff für die Novelle Widerfahrnis, eher ein Nebenwerk im Schaffen Kirchhoffs, den Preis für das beste Buch des Jahres zugesprochen bekam.

Robert Menasse: Die Hauptstadt (2017)

Robert Menasse Robert Menasse | Foto (Detail): © Christina Weiß Robert Menasse gelingt in seinem Roman Die Hauptstadt das seltene Kunststück, dass man nach der unterhaltsamen und kurzweiligen Lektüre mehr über den dargestellten Gegenstand verstanden hat als nach zehn dickleibigen Sachbüchern. Dabei ist „Brüssel“ die Chiffre für die ineinander verschlungenen, labyrinthischen Institutionen der EU und all der Menschen, die in ihrem Inneren arbeiten, intrigieren, lieben, leiden, verzweifeln – ein Moloch, der den einzelnen Menschen verschlingt.

Obwohl man lernt und begreift, stellt sich doch immer ein leicht bitterer Nachgeschmack: All diese Figuren sind Funktionsträger*innen, so richtig plastisch erscheinen sie nicht. Sie erfüllen einen Zweck, der nicht in ihnen selbst, sondern in der Schilderung der EU-Verhältnisse liegt – hier fehlt es dem Roman schließlich doch an epischer Wucht. 

Inger-Maria Mahlke: Archipel (2018) 

Inger-Maria Mahlke Inger-Maria Mahlke | Foto (Detail): © Sascha Erdmann Der Roman zählt zu jenen prämierten Werken, denen kein langes Nachleben beschieden war. Inger-Maria Mahlke führt rückwärts durch ein Jahrhundert voller Umbrüche und Verwerfungen auf der Insel Teneriffa, wohl ein Novum in der deutschen Gegenwartsliteratur. Geschickt beleuchte die Autorin so die historischen Ereignisse zwischen 1919 und 2015, vor allem die Franco-Diktator, so die Jury.

So altmodisch dieses Bedürfnis auch scheinen mag: Für Leser und Leserinnen, die „wissen wollen, wie’s weiter geht“, ist „Archipel“ gänzlich ungeeignet. Ja, schlimmer noch: Das a-chronologische Erzählverfahren macht uns beim Lesen immer schlauer als die Figuren es sind; manchmal ist das toll, aber auf die lange Strecke lässt das Interesse dann doch ein wenig nach und der tiefere Grund dieses Verfahrens erschließt sich einem auch nicht so ohne weiteres.

Saša Stanišic: Herkunft (2019)

Saša Stanišic Saša Stanišic | Foto (Detail): © vntr.media / Sascha Erdmann Der Preisträger des Jahres 2019 hat sicher nicht den literarisch anspruchsvollsten Roman des Jahres geschrieben, doch hat die Jury hier – eher ausnahmsweise – ein ungemein zugängliches, streckenweise verblüffend humoristisches Werk gewählt. Was nichts daran ändert, dass man beim Lesen auch immer wieder feuchte Augen bekommt, so etwa, wenn es um die Großeltern geht oder um die Liebe des Jungen zu seinem Verein „Roter Stern Belgrad“, wo beim letzten großen Europapokal-Spiel der Mannschaft kurz vor dem Bürgerkrieg noch einmal auf dem Platz und auf den Tribünen im Stadion Menschen aus allen Teilen Jugoslawiens zusammenkamen und der Junge wie selbstverständlich an die Zukunft seines Landes glaubt – dessen Bewohner aber schon wenige Wochen später beginnen sich gegenseitig umzubringen.

So entsteht aus vielen Impressionen ein Porträt sowohl der untergegangenen alten Heimat, ebenso aber ein nicht unkritisches, nirgends aber bitteres Bild von Deutschland als Einwanderungsland. Deshalb spricht Stanišic auch über „Heimaten“ ganz bewusst im Plural, sein Buch ist teilweise Roman, teilweise Autobiografie und immer wieder auch bloße, köstlich versponnene Fantasie. 

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos (2020)

Anne Weber Anne Weber | Foto (Detail): © vntr.media Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos dagegen ist ein hochartifizielles, sprachlich außergewöhnliches Versepos über eine französische Resistance-Kämpferin, die als Retterin zweier jüdischer Jugendlicher nach dem Krieg den Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern" erhält. Doch die unbeugsame Bretonin, die als Neurophysiologin arbeitete, war auch für ihr eigenes Land nicht bequem und engagierte sich für die algerische Unabhängigkeitsbewegung, wofür sie 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
 
Weber schafft durch die zwar nicht gereimten, aber immer wieder rhythmisierten Verse eine Distanz, in der sich die Bewunderung der eigenwilligen Frau und die Fragen nach den Grenzen eines Lebens im andauernden Widerstand gegen die jeweils herrschenden Verhältnisse klug die Waage halten. Denn es geht Anne Weber, die seit vielen Jahren in Paris lebt, nicht vordergründig um eine Biographie, sondern um ein beispielhaftes Leben, um ein Individuum in dauernder Auseinandersetzung mit seiner Gesellschaft.

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