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Kunstgeschichte
Beuroner Kunst aus Smíchov

Ein Tafelbild der Mater Dei im Kloster St. Gabriel in Prag, Smíchov.
Ein Tafelbild der Mater Dei im Kloster St. Gabriel in Prag, Smíchov. | Foto: Monica Bubna-Litic

Es mag viele überraschen, aber es ist wahr: Die tschechische Hauptstadt war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Weltzentrum der Beuroner Kunst. Konkret geht es um die Beuroner Kunstschule, eine bemerkenswerte künstlerische Bewegung, die aus süddeutschen kirchlichen Kreisen hervorging und sich in kurzer Zeit von der bildenden Kunst bis zur angewandten Kunst ausbreitete. Monica Bubna-Litic, eine führende Expertin für Beuroner Kunst, führt uns in das Werk ein.

Von Monica Bubna-Litic

Die Beuroner Kunstschule wurde um 1868 in der Benediktinerabtei St. Martin in Beuron (daher der Name) im heutigen Baden-Württemberg ins Leben gerufen. Musikhistoriker*innen seien gleich gewarnt: Dieses Kloster in Beuron ist nicht zu verwechseln mit dem Benediktinerkloster Benediktbeuern in Bayern, wo Texte mittelalterlicher Musiker und Dichter gefunden wurden, welche Carl Orff später unter dem Namen Carmina Burana (Codex Buranus) vertonte.

Beuroner Kunstschule unterlag geometrischen Regeln, dem sogenannten Kanon. Beuroner Kunstschule unterlag geometrischen Regeln, dem sogenannten Kanon. | Foto: Monica Bubna-Litic Der geistige Vater der Beuroner Kunstschule war nämlich jemand ganz anderes als Orff: Desiderius (Peter) Lenz, ein aus dem süddeutschen Haigerloch stammender Mönch, Bildhauer, Maler und Architekt. Von ihm stammt die Lehre, dass alle Kunst geometrischen Regeln unterliegt, die als Kanon bezeichnet werden (vergleichbar mit Geometrisierungen im Jugendstil), und die Idee, dass die in Zahlen ausgedrückte Harmonie ein Spiegelbild des Universums –­ der Schöpfung Gottes – ist.

Auch weil Lenz recht schnell einen Kreis von Helfern und Anhängern um sich scharte, die seine Lehren in die ganze Welt trugen, war Beurons Kunst sehr umfassend, ein sogenanntes Gesamtkunstwerk. Seine Prinzipien wurden in der Malerei, der Illumination, der Bildhauerei, der Stickerei, der Fotografie und dem Möbelbau angewandt. In den Goldschmiedewerkstätten wurden auch künstlerische und religiöse Gegenstände wie Krücken für Äbte und Äbtissinnen, Monstranzen, Messgefäße, Pektorale, Ringe usw. hergestellt. Der Beuroner Stil umfasste auch die Architektur (die leider bis auf die unvollendete Kapelle St. Maurus in Beuron im Jahr 1868 nie realisiert wurde). Die Kulturen des antiken Roms, Griechenlands und Byzanz waren dabei die Inspiration für die Beuroner Kunst. Auch Vorbilder aus dem alten Ägypten waren äußerst beliebt.

Die Beuroner in Prag

Die Kreativität von Desiderius Lenz und den anderen Beuroner Mönchen war unermesslich, aber sie selbst sahen sich kurz nach der Gründung ihrer Klosterschule erheblichen Schwierigkeiten gegenüber. Im Jahr 1875, als der sogenannte Kulturkampf (das heißt der politisch-religiöse Konflikt zwischen Staat und Kirche) in vollem Gange war, wurde das Kloster St. Martin in Beuron aufgelöst. Wo sind die kunstbegeisterten Benediktiner hingegangen? Nach Prag! Im Jahr 1880 erwarben sie dank Kardinal Bedřich Schwarzenberg, Erzbischof von Salzburg und später von Prag, das Prager Emmauskloster.

Obwohl 1887 ein Teil der Mönche aus Prag in das Kloster Beuron zurückkehren konnte, das sogar in den Rang eines Erzbistums erhoben wurde, und rund vierzig Klöster in Deutschland, Belgien, Dänemark, Österreich, Norditalien, Jerusalem, China, Brasilien und den USA gegründet wurden, blieb Prag für die nächsten drei Jahrzehnte das Zentrum der Beuroner Kunst. 

Es stimmt jedoch, dass jedes Kloster ein künstlerisches Zentrum war. Und so beeinflusste die Beuroner Kunst nicht nur tschechische Künstler wie Alfons Mucha, Jan Kotěra oder František Bílek, sondern auch andere große Namen: Antoni Gaudí, Gustav Klimt oder Jože Plečnik. Selbst einige Nabis, d.h. Mitglieder der französischen Künstlergruppe Les Nabis, wie Paul Sérusier oder Maurice Denis, nahmen den Einfluss ihres ehemaligen Kollegen, des niederländischen Malers Jan Verkad (1868-1946), der 1892 unter dem Ordensnamen Willibrord zum Beuroner Mönch wurde, an, und setzten diesen in ihren Werken um.

Auch in Prag machte die Kunstschule vor dem Kloster Emmaus nicht halt: Bereits 1888 gründeten die Beuroner Mönche in Smíchov ein neues Frauenkloster. Gräfin Gabriela von Swéerts-Spork unterstützte sie dabei finanziell, was die Mönche zu schätzen wussten: Sie benannten dieses erste Frauenkloster der Beuroner Kongregation ihr zu Ehren nach ihrem Schutzpatron, dem Heiligen (Erzengel) Gabriel.
  • Das St. Gabriels-Kloster in Prag, Smíchov, kurz nach seiner Fertigstellung im Jahr 1891. Foto: Archiv von Monica Bubna-Litic
    Das St. Gabriels-Kloster in Prag, Smíchov, kurz nach seiner Fertigstellung im Jahr 1891.
  • Das St. Gabriels-Kloster im Prager Stadtteil Smíchov, Sommer 2022. Foto: Ladislav Vaindl
    Das St. Gabriels-Kloster im Prager Stadtteil Smíchov, Sommer 2022.
  • St. Gabriels-Kloster in Prag, Detail des Skulpturenschmucks. © Ladislav Vaindl
    St. Gabriels-Kloster in Prag, Detail des Skulpturenschmucks.

Ägypten in Smíchov

Im Kloster St. Gabriel beschäftigten sich die Schwestern mit Buchmalerei auf Pergament, Paramentenstickerei und Fotografie. Ihr Mentor war Desiderius Lenz selbst, der sie mit Unterbrechungen sechs Jahre lang in Prag unterrichtete. Er war nämlich mit seinen Schülerinnen sehr zufrieden; im Gegensatz zu den Mönchen hielten sich die Schwestern genau an die geometrischen Regeln des Kanons, so, wie Lenz es verlangte. Sie begannen auch mit dem Studium der ägyptischen Kunst, in die sie sich verliebten. So kam zum Beispiel eine der Schwestern, die gebürtige Wienerin Maria von Eberhard, mit einem Klavier, mehreren Kisten mit Noten, Büchern über Musik und Kunst – und vor allem mit Reproduktionen ägyptischer Kunstwerke – ins Kloster St. Gabriel.

Bronzestatue der Madonna Isis von Desiderius Lenz aus dem Jahr 1872 Bronzestatue der Madonna Isis von Desiderius Lenz aus dem Jahr 1872 | Foto: Monica Bubna-Litic Desiderius Lenz entwarf auch das Gesamtkonzept für die Dekoration der örtlichen Kirche. Er stellte die Jungfrau Maria mit dem kleinen gesegneten Jesuskind auf ihrem Schoß an die Ostseite der Kirche und die Pietà an die Westseite. Als Königin auf dem Thron des Schmerzes dominiert die Figur der Jungfrau Maria mit rotem Heiligenschein die Wand. Sie berührt den Körper ihres toten Sohnes nicht und ähnelt eher einer anderen leidenden und triumphierenden göttlichen Mutter, Königin und Tochter – der ägyptischen Göttin Eset, besser bekannt unter dem griechischen Namen Isis. Der Körper Christi auf ihrem Schoß ist in einen Gürtel aus Leinen gehüllt. Er erinnert an die Binden, mit denen Eset die Gliedmaßen ihres toten Mannes Osiris zusammenband und posthum ihren Sohn Horus zeugte. Das Lesepult, an dem die Äbtissin einst im Chor der Schwestern das Evangelium in gregorianischer Notation sang, befindet sich heute im Presbyterium der Kirche. Auch hier ist ein bemerkenswerter altägyptischer Einfluss zu erkennen: Das Rednerpult stellt keinen Adler dar, das Symbol eines der vier Evangelisten Johannes, sondern einen Falken, das Attribut des ägyptischen Himmelsgottes Horus.

Die Apsis der Kirche von Smíchov, die mit einem Tafelbild der Mutter Gottes geschmückt ist, wird von einer halbkreisförmigen Bank mit geschnitzten Rückenlehnen mit Reliefs von Geiern flankiert, der Verkörperung der Göttin Nechbeta, einer der Beschützerinnen des ägyptischen Königs. Das Zeichen des Geiers steht auch für das ägyptische Wort mw.t (mút), das Mutter bedeutet. Das Geiermotiv befindet sich in der Abteikirche in unmittelbarer Nähe des Gemäldes, das Mater Dei – die Mutter Gottes – darstellt. Es ist daher wahrscheinlich, dass es sich nicht um einen Zufall handelt, sondern um eine weitere geplante Integration von antiken und christlichen Motiven. Lenz selbst nannte seine 53 cm hohe Bronzeskulptur von 1872 Madonna Isis. Sie wurde übrigens von dem Architekten Jože Plečnik in Auftrag gegeben, der sie in seinem Haus in Ljubljana aufstellte. Ein weiterer Abguss befindet sich in der Villa von Plečniks Schüler Otto Rothmayer in Břevnov, Prag.

Aufbrüche ins Exil

Um 1930 war der Beuroner Kunststil bereits im Ausklang. Die wichtigsten Klöster der Beuroner Schule, nämlich Emmaus in Prag und Montecassino in Italien, wurden während des Zweiten Weltkriegs bombardiert. Die Kirche St. Martin in Beuron wurde 1947 neu barockisiert, wobei die ursprüngliche „Beuroner“ Dekoration verloren ging. Im Tochterkloster St. Hildegard im rheinischen Eibingen wurde der Beuroner Chor weiß getüncht.

Und Smíchov? Etwa hundert Prager Benediktinerinnen, oft Töchter führender Adelsfamilien, mussten sich bereits am Ende des Ersten Weltkriegs von ihrer Heimat verabschieden. Aus Angst vor einer Beschlagnahmung verkauften die Schwestern das Kloster und zogen nach Schloss Bertholdstein in der Steiermark. Nach ihrem Willen finden die Gottesdienste jedoch weiterhin jeden Sonntag um 11.15 Uhr in der Prager Kirche statt (außer im Juli und August). Im Kloster und in der Kirche finden außerdem regelmäßig kulturelle Veranstaltungen statt, wie zum Beispiel das Designblok-Festival.

Doch auch ein Jahrhundert nach dem Weggang der Beuroner Schwestern aus Prag gehören die Kirche und das Kloster St. Gabriel zu den ältesten und am besten erhaltenen Denkmälern der Beuroner Geschichte weltweit, was zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass die Schwestern hier auch an den Wandmalereien gearbeitet haben, die eigentlich den Mönchen vorbehalten waren. Im Jahr 2008 beschlossen die Benediktinerinnen, das ursprüngliche Kircheninventar, das sie 1919 beim Umzug nach Österreich mitgenommen hatten, nach Prag zurückzubringen, was die Authentizität der Kirche St. Gabriel in Smíchov nur noch mehr untermauert. Obwohl die meisten Beuroner Gemälde im Kloster heute weiß getüncht sind, ist es immer noch einen Besuch wert. Führungen bieten Einblicke in den Kapitelsaal, den Kreuzgarten, den Kreuzgang, die Bibliothek, das Refektorium, die Kirche selbst und andere Winkel dieses bemerkenswerten Gebäudes, in dem Kunstgeschichte geschrieben wurde. Die Führungen können sowohl auf Tschechisch als auch auf Deutsch besucht werden.
Desiderius Lenz schuf für das Kloster eine Pieta, deren Jungfrau Maria der ägyptischen Göttin Eseta, besser bekannt unter ihrem griechischen Namen Isis, ähnelt. Desiderius Lenz schuf für das Kloster eine Pieta, deren Jungfrau Maria der ägyptischen Göttin Eseta, besser bekannt unter ihrem griechischen Namen Isis, ähnelt. | Foto: Monica Bubna-Litic

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