Lichtinstallation in Kafkas Zürau
Die Vollendung
Der Prager Schriftsteller Franz Kafka hat angefangen, was der Berliner Künstler Franz John nun vollendet. Was denn? Den Roman Das Schloss, welcher Anfang Oktober 2022 in Kafkas Dorf Siřem (Zürau) in Böhmen in einen neuen Kontext gesetzt wurde.
Von Jan Brandt
„Es war spät abends als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke die von der Landstraße zum Dorf führt und blickte in die scheinbare Leere empor.“ So beginnt Franz Kafkas letzter unvollendeter Roman Das Schloss, in dem ein Mann als Landvermesser in ein Dorf kommt, diese Tätigkeit jedoch nie ausüben wird. Ins Schloss selbst gelang er nicht, seine Versuche, sich ihm zu nähern, scheitern schon im Ansatz.
Obwohl Franz Kafka den Text im Winter 1922 im Luftkurort Spindlermühle begann (und im Spätsommer desselben Jahres mitten im Satz abbrach), trägt die Charakterisierung des Ortes deutliche Züge von Zürau, wo er sich fünf Jahre zuvor nach seinem Blutsturz aufhielt. Seine Lieblingsschwester Ottla betrieb in dem kaum 300 Einwohner zählenden westböhmischen Ort ein kleines Gut ihres Schwagers. Mehrere Monate wohnte Kafka an ihrer Seite, um sich von seiner Tuberkuloseerkrankung zu erholen.
In Zürau gab es kein Schloss, wohl aber einen großen Speicher, der noch heute wie ein Schloss über dem Dorf thront
Jan Brandt
Zürau war damals ein Bauerndorf, umgeben von Äckern, Hopfengärten und Wäldern, weltabgeschieden, ohne fließendes Wasser, Strom oder befestigte Straßen, es gab kein Telefon, keinen Bahnhof und nur zwei Kneipen. Damit entspricht es viel eher der Beschreibung im „Schloß“ als das von Touristen und Patienten bevölkerte Spindlermühle im Riesengebirge. Das namenlose Dorf im Roman ist nicht mehr als eine Ansammlung von Bauernhütten mit einigen wenigen öffentlichen Häusern: die Brücken-Gaststätte, der Herrenhof, die Kirche, die Schule. In Zürau gab es kein Schloss, wohl aber einen großen Speicher, der noch heute wie ein Schloss über dem Dorf thront und von dem aus, ist man einmal dorthin gelangt, sich die ganze Umgebung mit einem Blick erschließt.
Lichtinstallation in Kafkas Zürau
Der Berliner Künstler Franz John macht Landschaften, Orte, Gebäude und Räume zum Handlungsträger seiner Arbeiten. Er lässt sich auf die jeweilige Geschichte ein, zeigt auf, was in ihren Grundfesten verborgen liegt und bringt die in ihnen gespeicherte Erinnerung wieder zu Vorschein. Ob in der Salztangente (seit 2005) im Münsterland, wo er die unterirdisch angelegten geologischen Gegebenheiten durch metallene Stabfelder oberirdisch dargestellt hat, in Ressource Farbe (seit 2017), wo er eine Trafostation in Schöppingen durch Farbstoffsolarmodule zum Leuchten bringt, oder in Viva Maria (2022), wo eine sprechende Wand in der Königlichen Backstube in Berlin-Neukölln auf eine illegale Druckerei während der Studentenrevolte verweist.Wie in seinen jüngsten Arbeiten in der alten Tabakfabrik in Schwedt oder im Heinz-Nixdorf Museum in Paderborn verleiht er auch in Dokončení – Die Vollendung mithilfe von Lichtdrähten den unsichtbaren Strahlen unserer Vorstellungskraft eine Gestalt, er bringt Licht ins Dunkel und haucht dem leerstehenden Speicher in Zürau (Siřem) neues Leben ein. Dabei nimmt er die Kraftlinien des Gebäudes auf und verlängert sie nach draußen, ins Freie.
Es sind Lichter, die auf ein Ziel hinweisen, aber wie in Kafkas Roman im Nichts enden. Die blauen Lichtdrähte wirken wie Laserstrahlen. Sie visualisieren Kommunikationsversuche aus einer geheimen Kommandozentrale heraus, Botschaften, die ins Leere gehen und doch so anziehend sind, dass, wer sie einmal wahrgenommen hat, nicht umhinkann, immer mehr darüber in Erfahrung bringen zu wollen. In dieser angedeuteten Bewegung bringt Franz John nach 100 Jahren ein Werk der Weltliteratur zu einem Ende, das bis heute Rätsel aufgibt.
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