Neue Dramatik
Das Prager Kind von Marius von Mayenburg
Mehr als 20 Jahre nach der deutschen Erstaufführung wird Marius von Mayenburgs Stück Das kalte Kind zum ersten Mal auf einer tschechischen Bühne aufgeführt. Es wird auf der Bühne des DISK-Theaters in Prag von Regisseur Tomáš Ráliš inszeniert, für den es gleichzeitig die Abschlussinszenierung seines Studiums an der DAMU sein wird. Warum hat bisher niemand Das kalte Kind in Tschechien inszeniert, ein Stück eines ansonsten sehr populären Autors? Was sind die Besonderheiten von Mayenburgs Theaterkunst? Und warum ist es manchmal besser zu schweigen als zu reden? Darüber haben wir mit Tomáš Ráliš und der Dramaturgin Adéla Čermáková gesprochen.
Herr Ráliš, Mayenburgs Kaltes Kind ist ein Stück aus dem Jahr 2002. Nun wird es nach mehr als 20 Jahren auf tschechischen Bühnen uraufgeführt. Warum so spät?
Ich war selbst überrascht, dass dieses Stück in Tschechien irgendwie unbeachtet geblieben ist. Aber für einige Texte ist das vielleicht gar nicht so schlecht, im Gegenteil, die Themen, die das Stück transportiert, sind erstaunlich gereift.
Was sind das für Themen, und wie reifen sie?
Mayenburg schildert sehr schön den Zusammenprall der Generationen und arbeitet dabei mit nur zwei Schauspielern. Kurz gesagt geht es darum, dass die Eltern von den "jungen" Menschen erwarten, dass sie einen Lebensplan haben, eine klare Vorstellung davon, welchen Weg sie im Leben einschlagen wollen. Aber sie haben keinenund sie definieren sich nur negativ gegenüber den "Alten": Sie wissen, was sie nicht wollen, aber was sie mit ihrem Leben anzufangen haben, ist ihnen auch nicht ganz klar.
Ist das etwas, das Sie als jungen Absolventen anspricht? Ist das der Grund, warum Sie Das kalte Kind als Abschlussstück Ihres Studiums gewählt haben?
Ich finde, es ist das perfekte Stück zum Studienabschluss. Wir Studenten haben gelernt, wie man in einem Lerninkubator arbeitet. Und jetzt ist es an der Zeit, aus der Sicherheit des Universitätsumfelds herauszukommen, denn die Uni schützt uns wie ein Regenbogen. Die Frage, wie man sich gegenüber der älteren Generation definiert und seinen eigenen Weg findet, ist natürlich ein Thema, das mich persönlich betrifft, auch Adéla als Dramaturgin der Inszenierung, unsere Schauspieler, kurz gesagt, alle meine Mitarbeiter.
Irgendwann kommt die Welt sowieso zu dir
Ist denn Mayenburg als 1997 geborener Künstler für Sie noch ein progressiver, zeitgenössischer Dramatiker, der Trends setzt, oder ist er eher ein etablierter Klassiker, ein Autor einer älteren Generation?
Mayenburg ist einer der Autoren, die mich am meisten ansprechen, wenn ich ihn lese. Es ist eine ganz bestimmte Art von Dramatik. Mayenburg ist für mich immer eine Art Initiationserlebnis: Wenn ich sein Werk zum ersten Mal lese, bin ich wie betäubt und mein Puls beschleunigt sich, ohne dass ich in dem Moment genau sagen kann, warum. Aber ich weiß, dass er mich als Autor anspricht und dass ich es ihm gleichtun möchte. Das ist ja am Anfang sehr intuitiv.
Adéla Čermáková: Auch im Kontext unserer Schule wird Mayenburg als ein moderner, aktueller Autor wahrgenommen. Zumindest erleben wir ihn als solchen, und vielleicht spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass die von Mayenburg beschriebenen Konflikte, Gefühle und Themen in der tschechischen Gesellschaft manchmal etwas später reifen als in der deutschen Gesellschaft. Ich denke da zum Beispiel an die Tatsache, dass es heute nicht mehr selbsverständig ist, dass man den Beruf ausübt, für welchen man studiert. Das führt natürlich zu einem Generationskonflikt. Was Mayenburg 2002 beschrieben hat, wird heute durch verschiedene Technologien zehn- oder hundertfach hyperbolisiert. Das Tempo der Zeit beschleunigt sich, und so ist es paradoxerweise möglich, dass Mayenburgs Kaltes Kind heute aktueller ist, als zu der Zeit, in der es geschrieben wurde.
Tomáš Ráliš: Ich möchte hinzufügen, dass ich selbst die Hälfte meines Studiums in Quarantäne verbracht habe. Covid, der Krieg in der Ukraine und viele andere Ereignisse, die kurz hintereinander über uns hereinbrachen, haben dazu beigetragen, dass wir die Unberechenbarkeit der Welt noch intensiver spüren. Ich glaube, das macht einem klar, dass die Realität viel rücksichtsloser und härter ist, als man vielleicht gedacht hätte. Hier in der Tschechischen Republik sind wir sozusagen im Windschatten versteckt; wir sind wie die Hobbits, wir pflegen unseren eigenen Garten und haben das Gefühl, dass uns all die großen Weltereignisse nicht wirklich etwas angehen. Aber es stellt sich heraus, dass sie uns doch betreffen und dass sie für uns unvorhersehbar sind.
Inwieweit haben Sie sich von den deutschen Original-Inszenierungen von Mayenburg, wie z.B. der Schaubühne, inspirieren lassen, und inwieweit wollten Sie diese eigentlich nicht sehen, um sich nicht zu sehr davon beeinflussen zu lassen?
Ich versuche eigentlich, das zu vermeiden. Ich habe Fragmente gesehen, Trailer, zum Beispiel von der deutschen Adaption von Mayenburgs Perplexus, aber das war, nachdem ich es selbst inszeniert hatte. Ich denke, dass Theaterstücke für ein tschechisches Publikum anders inszeniert werden müssen als für ein deutsches Publikum. Die tschechische Theaterkultur ist anders, das Publikum ist an eine andere Art der Informationsvermittlung gewöhnt, die Schauspieler haben einen anderen Stil... Aber auch das ändert sich. Wenn ich das hässliche Wort "Trend" verwende, dann muss man sehen, dass sich die tschechischen Schauspieler daran gewöhnen, anders zu spielen, dass sie von der Art und Weise beeinflusst werden, wie Stücke zum Beispiel auf den großen Bühnen in Deutschland aufgeführt und inszeniert werden.
Sprung in sehr schwarzes Wasser
Das kalte Kind ist ein Novum für das tschechische Publikum, aber im Allgemeinen ist Mayenburgs Werk auf tschechischen Bühnen recht häufig anzutreffen. Seine Stücke, die von Petr Štědron übersetzt wurden, werden sowohl am Nationaltheater als auch an regionalen Bühnen aufgeführt. Vielleicht kann man sagen, dass er ein "etablierter" und beliebter Autor in der Tschechischen Republik ist. Halten Sie die Inszenierung von Das kalte Kind für eine sichere Sache?
Ich habe das überhaupt nicht so gesehen. Ich habe Mayenburg zum ersten Mal als Studentenstück inszeniert, aber ich habe nicht darüber nachgedacht, welche Wirkung es auf das Publikum haben würde, wie es sich gegen die Konkurrenz des Prager Theaterangebots behaupten würde.
Das kalte Kind ist in dieser Hinsicht ein ziemlich anspruchsvolles Stück. Es ist ein sehr kompliziertes Stück, das enorme Anforderungen an das gesamte Produktionsteam stellt. Die Tatsache, dass es in Prag erst 20 Jahre nach seiner Premiere inszeniert wird, hat sicher seine Gründe. Wir haben uns immer wieder gefragt, wo der Hund begraben liegt, warum es vor uns noch niemand inszenieren wollte.
Und was haben Sie sich einfallen lassen?
Ich denke, der Hund liegt in der Struktur und der Komposition des Stücks begraben. Es ist sehr dicht. Die Beziehungen, die wir darin sehen, sind bereits an einer Bruchstelle, sie sprudeln an die Oberfläche. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, aber Mayenburg hat das alles in einer so ausgeprägten Kurzschrift beschrieben, dass man raten muss, was alles zwischen diesen Figuren passiert sein muss, damit sie so reden, wie sie reden, so handeln, wie sie handeln. Es gehört zu Mayenburgs Stil, dass er die zwischenmenschlichen Beziehungen so sehr offenlegt, dass er zu ihrer animalischen Seite vordringt. Wenn wir das Stück originalgetreu inszenieren wollen, müssen wir uns dabei auch schmutzig machen. Für uns ist die Inszenierung des kalten Kindes wie ein blinder Sprung in ein sehr schwarzes Wasser.
Ist es das, was Ihnen an dem Stück am meisten Spaß macht, bis auf den Grund zu graben?
Ich glaube, was mir am meisten Spaß macht, ist die Frage, ob es überhaupt möglich ist, einem festgelegten Weg zu folgen, sich im wirklichen Leben an die Pläne zu halten, die wir entworfen, erdacht, erträumt haben. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
Ist das möglich?
Das Spiel ist kein Leitfaden für das Leben oder so etwas, es soll nicht belehren. Es zeigt nur, dass wir alle irgendwo hingehen müssen, aber nur wenige von uns wissen, wohin.
Wie schnell kann das gezeigt werden? Ist das Stück auch eine Abkürzung oder ein abendfüllendes Erlebnis?
Wir streben ein 90-minütiges Format an, ohne Pause. Uns gefällt die Idee, am Anfang eine Lawine von Emotionen und Situationen loszutreten, die wir bis zum Finale durchziehen. Es ist alles sehr komprimiert und gleichzeitig. Die Überschneidung der Zeitlinien, die Unterbrechung der Raum-Zeit, die Frage nach dem Ort der Handlung und wie lange das Stück schon läuft, spielt eine große Rolle. Das macht das Stück interessant, es ist für mich ansprechend und für jemand anderen vielleicht erschreckend unverankert. Man sucht nach einem Schlüssel, um es zu pausieren.
Was war Ihr Zugang als Regisseur: Haben Sie sich treu an den Text gehalten oder haben Sie sich interpretatorische Verschiebungen erlaubt?
Eigentlich nicht. Das Stück spielt sich in einer Art Zeitlosigkeit ab. Meyenburg hat in viele der Situationen nicht die Schlüssel eingebaut, wie sie zu lesen sind. Daher denke ich, dass die Art wie wir selbst die Situation interpretiert haben, interessant oder anders als im deutschen Text ist. Das Entscheidende ist, dass es sich um echtes Theater handelt, wir sind mit dem Hier und Jetzt beschäftigt.
Unsere Schauspieler, ihr Mut und ihr Selbstvertrauen, sind für uns entscheidend. Wir haben von Lehrern gesagt bekommen: "Nun, Das kalte Kind, davor hätten wir selbst mit einer erfahrenen Truppe Angst." Wir wetten darauf, dass Das kalte Kind bei uns auf große Resonanz stößt, und wir hoffen, dass uns das über unseren Mangel an Erfahrung hinweghilft.
Manchmal ist es schön, einfach zu schweigen
Der Autor ist ein Übersetzer, ein Germanist. Glauben Sie, das merkt man dem Stück an?
Adéla Čermáková: Mayenburg hat eine spezifische Sprache, mit der wir umgehen mussten. Wir haben die tschechische Übersetzung von Petr Štědron mit dem deutschen Original verglichen, denn manchmal war es nicht ganz klar, was die Besonderheit der Übersetzung und was die Besonderheit von Mayenburg ist. Ich meine zum Beispiel die seltsame Syntax, wo Mayenburg die Satzstruktur verwendet, um die Pausen anzuzeigen, die der Schauspieler oder die Schauspielerin machen sollte. Das ist, glaube ich, typisch für ihn als Autor, eine besondere Sprache gepaart mit einer besonderen Satzstruktur.
Tomáš Ráliš: Mayenburg ist eindeutig ein Liebhaber der Sprache: Er übersetzt sie, er spielt mit ihr, er ist ein langjährig praktizierender Dramaturg an der Schabühne, ein enger Mitarbeiter von Thomas Ostermeier, er ist auch ein Regisseur. Seine Stücke rascheln nicht mit dem Papier, sie sind keine Literatur, die sich als Theaterstück tarnt. Außerdem ist er Übersetzer, und ich glaube, dass Leute, die übersetzen, ihre eigene Muttersprache aus der Distanz, aus einer neuen Perspektive betrachten können. Und das ist sehr lohnend, es bringt eine ganz neue Sichtweise. Er ist der Autor der Bühne.
Wir sind hier im Goethe-Institut, da kann ich nicht anders als zu fragen: Wie wichtig ist es für Sie, Deutsch zu können, wenn Sie ein deutsches Stück inszenieren? Oder anders: Haben Ihre Deutschkenntnisse dazu beigetragen, dass Sie Mayenburgs Stücke für die Inszenierung ausgewählt haben?
Mein Deutsch ist im Moment ein bisschen eingeschlafen. Ich hatte es als zweite Fremdsprache in der Schule, daher bringe ich gewisse Grenzen mit. Es ist eher so, dass deutsche Autoren meine Motivation sind, mein Deutsch ständig zu verbessern. Ich mag deutsche Dramen sehr, und selbst Grundkenntnisse der deutschen Sprache sind für mich von unschätzbarem Wert, da ich mit ein wenig Arbeit die Übersetzung ins Tschechische mit dem Original vergleichen kann. Zumindest kann ich mir ein Bild davon machen, wie der Text des Stücks in der Originalsprache wirkt. Im Allgemeinen denke ich, dass die Tschechen Deutschland und Österreich sehr nahe stehen.
Welche Spuren möchten Sie mit Ihrer Inszenierung beim Publikum hinterlassen?
Ich denke, ich möchte, dass die Zuschauer, nachdem sie das DISK-Theater verlassen haben, eine Zeit lang mit sich selbst im Reinen sind. Es soll eine Aufführung sein, auf die eine angenehme Stille folgen kann. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns nicht nach dem Schlussapplaus sehnen.
Das Interview führte Tomáš Moravec, Pressesprecher des Goethe-Instituts in der Tschechischen Republik.
INFOS ZUR AUFFÜHRUNG IN TSCHECHIEN
- Marius von Mayenburg: Das kalte Kind (Chladné dítě)
- Tschechische Erstaufführung am 31. März 2023, DISK-Theater.
- Übersetzung: Petr Štedroň.
- Dramaturgische Leitung: Adéla Čermánková. Kostüme: Anna Havelková. Musik: Tomáš Ráliš, Tomáš Dalecký.
- Zusammenarbeit im Bereich Bewegung: Karolina Gilová.
- Regie: Tomáš Ráliš.
- Webseite: www.i-divadlo.cz/divadlo/divadlo-disk/chladne-dite
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