Das Team des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt formuliert ein Manifest mit acht Thesen, wie Integration unterschiedlichster Kulturen in die deutsche Gesellschaft gelingen kann.
Rund eine Million Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, dem Balkan und Nordafrika sind allein 2015 in Deutschland angekommen, um sich eine neue Heimat aufzubauen. Making Heimat. Germany, Arrival Country lautet der Titel, mit dem sich das Team des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt (DAM) um den Deutschen Beitrag zur Architekturbiennale 2016 in Venedig beworben hatte. Eigentlich wollten die Kuratoren Best-Practice-Beispiele für Flüchtlingsunterkünfte präsentieren. Stattdessen formulieren sie ein Manifest mit acht Thesen, wie die Integration unterschiedlichster Kulturen in die deutsche Gesellschaft gelingen kann.
„Reporting from the Front“, hatte der chilenische Pritzker-Preisträger und Kurator der Architekturbiennale Alejandro Aravena seiner Hauptausstellung mit 88 Beiträgen verschiedener Architektenteams und den 63 Länderpavillons vorgegeben. Bilder ankommender Flüchtlingsströme dominierten im vergangenen Herbst wochenlang die Nachrichten. Diese für Deutschland ungewöhnlichen Szenen des Ausnahmezustands bewegten den Direktor Peter Cachola Schmal, den Kurator Oliver Elser und die Projektkoordinatorin Anna Scheuermann des Deutschen Architekturmuseums ihr schon länger geplantes Projekt zur Architekturbiennale einzureichen, um es in einem globalen Kontext zur Diskussion zu stellen.
Improvisation als Konzept
Deutscher Pavillon in Venedig
| Foto: Frank Kaltenbach
Weiße stapelbare Plastiksessel aus dem Baumarkt, gebrauchte Schichtstoffplatten und verpackte Europaletten mit Ziegelsteinen empfangen den Besucher. An den Wänden überwiegend kleinformatige Poster, die mit einfachen A3-Druckern ausgedruckt und mit Sprühkleber direkt auf die Wände geklebt sind. Anstelle von deutschem Bier bietet ein Stand Ayran, das traditionelle türkische Joghurtgetränk, zur kostenlosen Erfrischung an. Im Vergleich zu vielen perfekt gestalteten Pavillons anderer Nationen wirkt die Ausstellung im deutschen billig und improvisiert. Doch genau das ist ihr Programm, denn das ist die Ästhetik und das Lebensgefühl der sogenannten
Arrival City, wie sie als globales Phänomen der Migration in aller Welt existiert und wie sie der kanadische Journalist Doug Saunders 2011 in seinem Bestseller
Arrival City – the Final Migration and Our Next World beschrieben hat. Saunders ist neben Kai Vöckler aus Offenbach Berater dieses Biennale-Beitrags.
Arrival City in Deutschland
Deutscher Pavillon in Venedig
| Foto: Frank Kaltenbach
Im Jahr 2013 wurde Saunders Buch unter dem Titel
Die neue Völkerwanderung, Arrival City auf Deutsch herausgebracht. 2015 hat sich die Situation der Flüchtlingskrise auf der gesamten Balkanroute und auch in Deutschland verschärft. Wie kann man für so viele Neuankömmlinge möglichst kurzfristig bezahlbaren Wohnraum schaffen? Die Kuratoren riefen zu einem Call for Projects auf und sammelten alle eingereichten Projekte aktueller Erstaufnahmestationen und Unterkünfte für dauerhafte Unterbringungen in einer Datenbank. Die wenigen architektonisch herausragenden Beispiele werden auch in der Ausstellung anhand von Fotos und Broschüren präsentiert.
Die Kuratoren wollen aber in erster Linie Mut machen und positive Beispiele zeigen, wo und weshalb die Integration unterschiedlichster Kulturen in die deutsche Gesellschaft bereits gelingt: So hat Offenbach deutschlandweit mit 30 Prozent den höchsten Ausländeranteil, in dessen Ankunftsviertel Nordend erreicht er sogar 48 Prozent. Das ist mehr als doppelt so viel wie in Neukölln, dem Ankunftsviertel der Hauptstadt Berlin. In den Fotografien von Florian Thein wird die Erdgeschosszone mit ausländischen Läden und Restaurants in diesen Stadtvierteln dokumentiert. Die überraschende Botschaft: Von außen gesehen wirken die
Arrival Cities wie Problemviertel. Genauer betrachtet bieten sie den Ankömmlingen aber das, was sie benötigen. Die Voraussetzungen für den Erfolg einer Ankunftsstadt fassen die Kuratoren in acht Thesen zusammen. Sie sind jeweils als Überschrift auf den einzelnen Themenwänden zu finden:
1 Die
Arrival City ist eine Stadt in der Stadt
2 Die
Arrival City ist bezahlbar
3 Die
Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit
4 Die
Arrival City ist informell
5 Die
Arrival City ist selbst gebaut
6 Die
Arrival City ist im Erdgeschoss
7 Die
Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern
8 Die
Arrival City braucht die besten Schulen
Ein offenes Haus für alle
Deutscher Pavillon in Venedig
| Foto: Frank Kaltenbach
Die Hauptattraktion sind jedoch die vier großen Öffnungen, die die Ausstellungsgestalter
Something Fantastic in die Außenwände des historischen Pavillons aus dem Jahr 1909 brachen, um den geschlossenen denkmalgeschützten Bau in einen nach allen Seiten offenen Raum zu verwandeln. 48 Tonnen Ziegelstein ließen sie herausbrechen. Um die Denkmalschutzbehörde zu beschwichtigen, dass die Öffnungen wieder zugemauert und die provisorischen grünen Stahlträger wieder verschwinden werden, haben die Gestalter die dazu notwendige Anzahl an Ziegeln als Unterbau für Tische und Theken in die Szenografie integriert.
Deutscher Pavillon in Venedig
| Foto: Frank Kaltenbach
Durch die neu geöffneten Tore zu den Nachbarpavillons und zur Lagune sind die Veranstaltungen im deutschen Pavillon von einem überraschend frischen Wind des kulturellen Miteinanders geprägt, der hoffentlich bis in die gesellschaftspolitische Debatte zur Flüchtlingskrise in ganz Europa wehen wird.