Future Perfect
Mit Fahrrädern zurück ins Leben

Die Fahrradwerkstatt ByCycle in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul.
Die Fahrradwerkstatt ByCycle in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. | Foto: Sören Kittel

Der Sozialarbeiter Lee Hyeong-un bringt mit seiner Fahrradwerkstatt ByCycle Obdachlosen bei, wie es sich anfühlt, Teil der Gesellschaft zu sein. Ein Besuch in der Hochhausschlucht von Seoul.

Lee Hyeong-Un muss nicht weit blicken, um zu sehen, wo ein Leben enden kann. An der Wand neben seinem Schreibtisch hängt das Foto eines Mannes, der offenbar gerade einen großen Berg bestiegen oder sonst eine wichtige Tat erfolgreich abgeschlossen hat. Sein rundes Gesicht lacht zuversichtlich, seine Windjacke leuchtet blau und die Hand macht noch diese Zwei-Finger-Geste, die in Korea nicht „Victory“ bedeutet, sondern einfach: Alles ist gerade sehr gut. Lee Hyeong-Un sagt über das Bild: „Das ist einer meiner Mitarbeiter. Er konnte 50 Flaschen Soju (Reiswein) am Tag trinken.“ Doch der Mitarbeiter sei jetzt tot. Gestorben an Alkohol oder am Leben als Obdachloser in Südkorea.
 
Für Lee Hyeong-Un ist dieses Foto gleichzeitig eine Warnung und ein Versprechen, dass es so weit nicht noch einmal kommen soll mit einem seiner Schützlinge. Wie, das kann der 46 Jahre alte Mann sehen, wenn er von seinem Schreibtisch in die andere Richtung blickt. Dann sieht er mitten hinein in seine Werkstatt von ByCycle, die es so nur einmal gibt in Seoul, dieser 25-Millionen-Metropole in Südkorea. Zwischen den Hochhausschluchten rund um die U-Bahn-Station Samgakji und direkt neben einer Kreuzung zweier großer Schnellstraßen hat Herr Lee eine Werkstatt für Fahrräder aufgebaut, in der fast ausschließlich Obdachlose arbeiten. Derzeit kommen rund 35 Obdachlose regelmäßig in seine Firma.

Pünktlichkeit ist der Anfang

Die Obdachlosen schrauben aus alten Fahrrädern neue zusammen, sie reparieren die Räder von Anwohnern gegen Lohn und basteln in der Freizeit aus ausrangierten Fahrradteilen Kunstwerke. An der Wand hängt ein „Hirschgeweih“ aus Fahrradsitz (Kopf) und Lenker (Geweih), davor steht ein Stiftehalter aus einem Fahrradmantel, gerade hatten sie eine Ausstellung von Gemälden, die aus Gliedern einer Fahrradkette gemalt wurden. „Sie können hier kreativ werden“, sagt er, „und die Sachen verkaufen sich noch gut.“ Auf die Idee sei er vor vielen Jahren gekommen, weil er bei der Arbeit mit Obdachlosen merkte, dass viele einfach keine Perspektive haben. Wenn sie einen Job und Kollegen hätten, so dachte er sich, könnten sie stückweise in den Alltag zurückfinden.
 
Heute sieht er, dass dieses Konzept nicht immer aufgeht. „Sie müssen auch wollen“, sagt er, „sonst hilft das beste Angebot nichts.“ Das fange bei der Pünktlichkeit an. „Das ist etwas, was sie am Anfang üben mussten.“ So hat er nach einer Weile ein Bonussystem eingeführt für die Mitarbeiter, die pünktlich erscheinen – oder überhaupt zu ihrer Schicht kommen. Als Anreiz gilt die Bezahlung: Im ersten Jahr bekommen Mitarbeiter 500.000 Won, also rund 500 US-Dollar im Monat. Im zweiten Jahr 800.000 Won und im dritten Jahr 1,2 Millionen Won. Auch hierbei ist die Idee, dass die Mitarbeiter sehen, dass es sich lohnt, bei der Stange zu bleiben.
 
Immer wieder schaffen es auch Mitarbeiter, von diesem Job in einen anderen, besseren zu wechseln. Das sei das eine Ziel, sagt Lee Hyeong-Un, das er mit seiner Arbeit erreichen wolle. „Das andere ist, dass die Stadt Seoul sieht, dass es funktionieren kann, wenn man Obdachlosen ein Angebot macht.“ Die Stadt unterstützt das Projekt nur, weil sie sieht, dass es nachhaltig ist. ByCycle bekommt von der Stadt kostenlos Fahrradschrott. „Damit können wir neue Fahrräder zusammenbauen und diese dann verkaufen.“ Eben Upcycling – fast im doppelten Sinn.
 
  • Lee Hyeong-un gibt Obdachlosen und Fahrrädern eine zweite Chance. Foto: Sören Kittel
    Lee Hyeong-un gibt Obdachlosen und Fahrrädern eine zweite Chance.
  • Alte Fahrräder werden hier wieder hergerichtet oder recycelt. Foto: Sören Kittel
    Alte Fahrräder werden hier wieder hergerichtet oder recycelt.
  • Auch Kunstwerke oder Möbelstücke entstehen hier aus Schrott. Foto: Sören Kittel
    Auch Kunstwerke oder Möbelstücke entstehen hier aus Schrott.
  • Unterstützt wird Lee Hyeong-un von einem Team von (ehemals) obdachlosen Mitarbeitern. Foto: Sören Kittel
    Unterstützt wird Lee Hyeong-un von einem Team von (ehemals) obdachlosen Mitarbeitern.
 

Das Trinken vom Vater gelernt

Südkorea ist eine sehr kompetitive Gesellschaft, die zwar in den PISA-Studien regelmäßig führend ist, aber mit denen, die durch das Bildungsraster fallen, nicht umgehen kann. Offiziell gibt die Stadt Seoul die Zahl der Obdachlosen mit nur 4.000 an, aber da sie nicht registriert werden, gibt es wohl eine hohe Dunkelziffer. Zudem gibt es nicht ausreichend soziale Netze – was unter anderem damit zu tun hat, dass Bürger, die politisch linke Positionen vertreten, schnell in den Verdacht geraten, Nordkorea zu unterstützen. Ein Sozialsystem hat es schon deshalb schwer, sich zu etablieren. Die Fahrradwerkstatt hat sogar mit Anwohnern zu kämpfen, die es nicht mögen, dass in ihrer Nachbarschaft plötzlich Obdachlose arbeiten – und wohnen, denn einige schlafen in der Werkstatt.
 
Einer von ihnen ist Oh Byeong Min. Er ist sehr dünn, spricht sehr leise, geht gedrungen. Seit drei Jahren kommt er in die Werkstatt, sagt er und fügt an: „Mit einem Jahr Unterbrechung.“ Da hätte er genug gehabt von Fahrrädern, sei wieder auf der Straße unterwegs gewesen. „Ich dachte, das bringt doch alles nichts.“ Doch jetzt ist er zurück. „Ich mag, dass wir hier freundlich zueinander sind, das ist für mich nicht selbstverständlich.“ Einige der Kunden kommen schließlich genau deshalb, weil sie mit ihrer Fahrradreparatur auch ein gutes Werk tun.
 
Er erzählt in wenigen Worten von einer Kindheit in Nonsan, einer kleinen Stadt rund zwei Stunden Autofahrt südlich von Seoul. Seine Eltern hätten sich nicht um ihn gekümmert, schon früh sei er auf sich allein gewesen. Das Trinken habe er von seinem Vater gelernt, doch er habe nie gelernt, auf sich zu vertrauen. „Ich war schlecht in der Schule“, sagt er, „und irgendwann habe ich aufgehört, mir Mühe zu geben.“
 
Er ist jetzt 38 Jahre alt und arbeitet fünf Tage in der Woche hier in der Fahrradwerkstatt. „Ich schlafe hier auch.“ Er hat sich gerade in die zweite Gehaltsstufe hinaufgearbeitet. Neulich hat er aus Schrott ein Fahrrad zusammengebastelt und mit grünen Tarnfarben bemalt, wie ein Militärfahrrad. Am Abend ist er damit am Han-Fluss entlang gefahren. Da war er: einer von vielen.