Goethes Pfadfinder
Die grosse Nudelstory
Schwarze Sepianudeln, „Bartmäntelchen“ und Förderbänder, wohin man schaut. Eine Reportage der tschechischen Feinschmeckerin und Kochbuchautorin Jana Vlková aus dem sächsischen Riesa, wo seit über einhundert Jahren eine bekannte deutsche Nudelmarke produziert wird.
Von Jana Vlková
Am Riesaer Bahnhof an einem Werktag vormittags auszusteigen, ist wie auf dem Mars zu landen. Kein Mensch zu sehen, nur ein Taxi und hinter dem vorbildlich rekonstruierten Bahnhofsgebäude irgendwelche Boutiquen, vor denen ein Wasserkran steht aus einer Zeit, als hier noch Dampfloks fuhren. An diesem Ort begann meine Reise ins Nudelcentrum. Oder wie ich eingetschechischt sagen würde: Nudlarna.
Wie ich mit den deutschen Nudeln klargekommen bin? Nun, vom Essen verstehe ich einiges und bin eigentlich ein anspruchsvoller Gourmet. Deutsch kann ich nicht. Eigentlich weiß ich nicht einmal wie man anständig grüßt, denn ich verstehe den Unterschied zwischen „Hallo, Grüß Gott, Guten Tag und Tschüss“ nicht wirklich. Mit diesem Reisedeutsch ausgestattet habe ich den Bahnhof verlassen. Ich ging zu Fuß. Etwa drei Kilometer und eine schöne Strecke war das wahrlich nicht.
Riesa war früher ein Dorf, das um ein Kloster herum entstanden war. Im 19. Jahrhundert wurde daraus eine Industriestadt. Es gab hier Stahlwerke, Mühlen und einen riesigen Hafen. Nach dem Krieg lag die Stadt in der DDR. Sie hat in den letzten einhundert Jahren wenig Schönes durchgemacht.
Der Weg zur Nudlarna führt durch ein Industriegebiet in der Vorstadt. Den menschenleeren Raum erfüllt ein ziemlich dichter Autoverkehr. Aber dieses touristische Extrabonbon habe ich mir freiwillig ausgesucht, denn nur zu Fuß hat man die Chance auch die tief verborgenen Energien einer Stadt aufzunehmen. Der normale Besucher kann vor dem Bahnhof auf den Bus warten, der ihn direkt zu seinem Ziel bringt. Die Haltestelle der Linie D heißt einfach Nudelzentrum.
Ein bisschen Geschichte muss sein
Endlich bin ich vor Ort. Die Nudelfabrik steht hier seit 1914. Ein wunderschöner und stattlicher Bau, typisch für seine Zeit. Massive Wände aus roten Ziegeln mit offenen Fugen auf handwerklich zauberhafte Weise erbaut – zusammengesetzt zu komplexen baulichen Beziehungen, die das Auge auch mit ihrer Ornamentik erfreuen. Ich habe auch schon anderswo in Deutschland ähnliche und im Grunde verlassene Fabrikhallen gesehen und mir wurde immer wieder erklärt, wie kompliziert es sei, diese abzureißen.Das Interieur ist bis zur Unkenntlichkeit modernisiert. Bevor wir uns die Fertigung anschauen, noch ein paar Worte zur Vergangenheit der Fabrik. Dazu gibt es einen kurzen Film. Aber die gegenwärtigen Besitzer gehen nicht allzu tief auf die Geschichte ein. Welches Verhältnis wohl der ursprüngliche Besitzer zu seinem Unternehmen hätte, das er vor dem Ersten Weltkrieg zum Laufen brachte und durch die nachfolgende Inflationskrise brachte, bis es mit der sozialistischen DDR zur Verstaatlichung des Betriebes kam? Vermutlich ähnlich wie das der vielen anderen erfolgreichen Männer, die alles hinbekamen, am Kommunismus aber scheiterten. Der Film erwähnt die sozialistischen Errungenschaften, wie eine betriebseigene Arztpraxis und einen Friseur. Vor allem aber konzentrieren sich vorgeführten Zeitzeugen auf den Aufbau der Marke nach Übernahme der verfallenden Fabrik nach der Wiedervereinigung. Für 4 Euro Eintritt könnte man den Publikum etwas interessanteres, sprich objektiveres bieten. Aber die Zeit ist wie sie ist, Marketing-Sprech mit jedem Wort und weitestgehend ohne Scham.
Endlich in die Produktion
Wir sind eine einigermaßen heterogene Gruppe von aktiven Senioren bis zu einer Schulklasse. Alle müssen wir zu Beginn unser Einverständnis erklären, dass wir länger als eine halbe Stunde bei Temperaturen zwischen 22 und 35 Grad Celsius bewegen werden. Dann bekommen wir Hygieneanzüge und Mützchen und die Herren mit gepflegten Vollbärten bekommen sogar „Bartmäntelchen“. In diesem Moment beginnen Besucher von Lebensmittelbetrieben immer zu lachen. Die Kinder sind in den großen Anzügen auf verschiedene Weise eingeschnürt und sehen aus, als würden sie Zwangsjacken tragen.Noch bevor sie uns in die Produktion lassen, müssen wir einen weiteren Marketing-Part über uns ergehen lassen, dieses Mal in Form einer Ausstellung aller vielleicht 20 Nudelsorten, die wir dann später auch im Laden kaufen können. Einige Stichproben, die mich angesprochen haben – schwarze Sepianudeln, mit vier Eiern auf einem Kilo Mehl, mit Maismehl (ich kann mir nicht vorstellen, wie das zusammenhalten soll), die Oster-, Halloween- und Dinosaurier-Edition, dreifarbige und viele weitere, die mich schon weniger ansprachen.
Förderbänder, Fülltrichter und Detektoren
Aus den Fotos im Internet habe ich mir gedacht, dass wir durch irgendwelche Korridore laufen würden und ein Erlebnis wie im Zoo hätten. Es ist viel besser. Eine Industriesafari.Sollten Sie an dergleichen Schwäche für Produktionsbänder leiden wie ich, dann wird es Ihnen sicher gefallen! Es gibt hier Förderbänder mit Walzen, Bändern, mit Eimerketten, die miteinander ein großes Gewirr ergeben. Beutel werden in Kisten zurechtgerückt. Aus den Fülltrichtern rinnen Nudeln in unendliche Hosenbeine. Vielleicht scheint es, dass ich es nicht vernünftig beschreiben kann und Unsinn rede. Aber so sieht es dort tatsächlich aus. Der Rundgang beginnt bei der Endverpackung. Die Abstimmung der einzelnen Arbeitsschritte im Produktionsprozess raubt mir immer den Atem. Die Fabrik hat für die Führungen an verschiedenen Orten Mikrofone, die dem Guide helfen gegen den Produktionslärm anzukämpfen. Ich verstehe kein einziges Wort, ich schwelge nur. Die Tour endet an dem Ort, wo der Teig gemacht wird.
Kommerzieller Überbau
Teil der Nudlarna ist auch ein Restaurant. Es hat eine Atmosphäre gerade dafür, dass man sich dort für einen normalen Preis sattessen möchte. Die Speisekarte enthält vor allem Nudelgerichte.Das Museum habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Das Erlebnis ist mit dem der laufenden Produktion nicht zu vergleichen. Selbstverständlich ist die Zahl der Exponate begrenzt, es handelt sich eher um eine Sammlung von übrig gebliebenem Trödel. Es gibt hier ein paar Poster noch aus der Zwischenkriegszeit und das erste Kassenbuch, ein Heft etwa vom Format A3, geöffnet auf der Seite mit dem in Schönschrift verfassten Kassenabschluss von 1916. Ein wenig seltsam mutet der Bereich an, in dem eine möchte gern Vorratskammer und eine Arztpritsche ausgestellt sind. Diese stammt wohl aus dem Sprechzimmer des Betriebsarztes zu DDR-Zeiten. Die Betriebskantine vertritt in der Ausstellung ein riesengroßer Alutopf und einer Schöpfkelle aus demselben, heute eher disqualifiziertem Material. Das ist das Museum.
Durch den Laden bin ich nur durchgegangen, sodass ich nicht einmal einen qualifizierten Bericht darüber abgeben kann, ob die Nudeln dort teurer oder billiger als im Supermarkt gegenüber sind.
Wo was los ist
Zurück in die Stadt bin ich mit dem Bus gefahren. Er fährt alle halbe Stunde ins Zentrum. Dieses bildet der Alexander-Puschkin-Park, der von zwei Straßen eingeschlossen wird, die eine benannt nach Engels, die zweite nach Goethe. Das einzige Leben gibt es auf der Hauptstraße. Und nein, das ist kein Irrtum, sie heißt wirklich Hauptstraße. Sie versprüht einen liebenswerten kleinstädtischen Charme.In der Nudlarna habe ich gelernt, dass dieser Ort zu den Top-Zielen für Tagesausflüge zählt. Ich weiß nicht so recht. Aber ich würde es weiterempfehlen, wenn Sie etwas ungewöhnliches, morbide–authentisches sehen wollen. Gut geeignet vielleicht auch für Kinder, die durch künstliche Freizeitparks mit Hüpfburgen überfrachtet sind. Die Förderbänder sind wirklich super.
Teigwaren Riesa | © Teigwaren Riesa
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