Im Gespräch mit
Ulrich Peltzer
Die Zeitung Lidové noviny im Gespräch mit dem deutschen Schriftsteller Ulrich Peltzer über den Umgang mit den Idealen junger Menschen, über das Diktat des Pragmatismus in den heutigen Leben und über seine Prager Eindrücke von früher.
Dieser schlanke, elegant gekleidete Intellektuelle ist nach Prag gekommen, um sein neues Buch Das bessere Leben vorzustellen. Es zählt zu den besten deutschen Romanen des letzten Jahres. Wer hätte gedacht, dass er zum ersten Mal 1969 in Prag war und zwar als Hockeyspieler? Und dass in seinem Familienalbum aus der Zeit auch ein Foto vom Grab von Jan Palach ist?
Auch beim Roman Das bessere Leben trügt der Schein. Was auf den ersten Blick wie ein unübersichtliches Mosaik von Handlungsstängen aus verschiedenen Zeiten und Erdteilen erscheint, belohnt den aufmerksamen Leser: es eröffnet einem ein Bild, das dazu führt, die Ideale der jungen Menschen zu überdenken und über Zufall oder darüber nachzudenken, ob so etwas wie ein besseres Leben überhaupt existiert.
Als Hauptthemen Ihres Romans kann man vielleicht den Verlust der Ideale nennen, das Streben nach Macht und Geld sowie die Neigung zur komfortablen Konformität. Ihre beiden Hauptprotagonisten sind in ihren Fünfzigern und gut verdienende Geschäftsmänner. Warum haben Sie sich in genau ihre Welt begeben?
Ich habe solche Menschen kennengelernt. Vielleicht entdeckt man an Personen, die sich im Bereich Wirtschaft bewegen etwas Typisches. Eine der unausgesprochenen Fragen, um die es in meinem Buch geht, ist, wie dieses bessere Leben sein könnte und was ein Mensch dafür bereit ist zu tun. Mir schien, als ob man eine solche Frage nicht anhand von Figuren komplexer beantworten kann, die kein Geld haben. Sie eröffnet sich nämlich erst in der Situation, wo der Mensch schon ein sehr differenziertes Leben führt und sich nicht fragen muss, ob er ein Dach über dem Kopf hat oder wovon er sich als nächstes Essen kauft; dann erst fängt man wirklich an darüber nachzudenken, was es bedeuten würde, ein noch besseres Leben zu führen bzw. was das Dasein eigentlich für einen Sinn hat.
Vielen Menschen ist die Welt des großen Business fremd in dem Sinne, dass sie sich nicht vorstellen können, das tägliche Leben auf eine Art und Weise zu führen, wo jede Schwäche, jedes Zögern eine fatale Folge haben kann...
© Martin Mařák
Wenn meine Helden einen Fehler machen oder sogar ihren Arbeitsplatz verlieren, endet das nicht automatisch in einer finanziellen oder Lebenskatastrophe. Der Druck, der auf jedermann lastet, gehört zum neoliberalen Imperativ und hat nur unterschiedliche Auswirkungen. Ein LKW-Fahrer zum Beispiel, der seinen Job verliert, wird mit ganz unterschiedlichen Folgen konfrontiert als ein Manager, der eine halbe Million oder vielleicht eine Million Euro auf dem Konto liegen hat.
Sie beschreiben die Schicksale von Menschen, die in ihrer Jugend in revolutionären Bewegungen mitgewirkt haben. Sind Revolutionen letztlich zum Scheitern verurteilt?
Dass Revolutionen scheitern, ist nichts Neues. Die Frage bleibt, wie ein Mensch mit den Idealen seiner Jugend umgeht, ohne dass er sie verrät oder bestreitet, dass er damals gute Gründe dafür hatte, so zu denken. Bei meinen Figuren ist wichtig, dass sie keine Renegaten sind und sagen: Das, was ich damals gemacht habe, war völlig falsch. Sie werden sich bewusst, dass es ein historischer Augenblick war, in dem sie auf eine bestimmte Weise gedacht und gehandelt haben. In meinem Roman ist die ungelöste Geschichte allgegenwärtig, denn für mich war es wichtig, biographische und gesellschaftlich ungelöste Geschichtsthemen festzuhalten.
Ihre Helden leben in einer Welt, die sie sich ursprünglich völlig anders vorgestellt haben. Wie gehen Revolutionäre mit der Tatsache um, dass sie sich selbst in ganz normale Bürger verwandelt haben?
Eine solche Frage stellt sich in unterschiedlicher Intensität wahrscheinlich jeder von uns: Wie soll ich mit einer Welt umgehen, die nicht so geworden ist, wie ich sie mir einmal vielleicht gewünscht habe? Mit einer Welt, in der die Veränderungen nicht stattgefunden haben, für die ich einst gekämpft habe. Das sind oft schleichende Prozesse ohne welterschütternde Erkenntnis. So ist das Leben. Es ging mir unter anderem auch darum, dass die Ideale der Jugend nicht verraten werden. Das Bewusstsein muss vorhanden sein, zu sehen, was an ihnen problematisch war, ohne sie zu verraten und sich in Schuldgefühlen zu ertränken. Denn Menschen, die das tun, werden mit vorzeitiger Alterung und Verdummung bestraft.
Man muss sich also selbst treu bleiben, sich mit seinen Aufständen versöhnen, obwohl sie pathetisch oder radikal waren?
© Martin Mařák
Sicher. Ich kann mir selbst treu bleiben, auch wenn sich meine Ideale nicht durchgesetzt haben. Interessant am 21. Jahrhundert finde ich, dass die Utopien und Ideologien, die sich im 20. Jahrhundert breit gemacht haben, auf der einen Seite nicht erfüllt wurden, auf der anderen Seite die Probleme, auf die diese Utopien, Vorstellungen und Träume reagiert haben, nicht verschwunden sind. Dies erzeugt eine Spannung, die eines der Momente in meinem Roman ist. Es gab gute Gründe dafür, Abschied von Utopien zu nehmen. Im 20. Jahrhundert verursachten sie zahlreiche Katastrophen. Auf der anderen Seite ist es unmöglich, ohne sie zu leben. Ohne Utopien, die ein bisschen mehr sind als nur ein sehr privater Traum vom persönlichen Erfolg; die eine kollektive Vorstellung davon darstellen, wie die Gesellschaft aussehen sollte. Die Episoden im Roman, die aus dem 20. Jahrhundert sind - aus den Jahren 1936, 1970 und 1980 – lösen Erinnerungen an Epochen und Auseinandersetzungen aus, die aus diesen Träumen von einer gerechteren Welt ohne Gewalt und Ausbeutung hervorgegangen sind. Dies sind Forderungen, die auch heutzutage relevant wären, wenn wir sie ansprechen würden. Aber sie gehören heute fast nicht mehr zum gesellschaftlichen Diskurs. In diesem Augenblick bewegen wir uns sehr pragmatisch vorwärts.
Warum gibt es heutzutage keine große Widerstandsbewegung?
Das weiß ich nicht. Das, was Jean-François Lyotard die großen Erzählungen (Metaerzählungen) nannte, vor allem die große linke Erzählung, in der jede politische Aktion in einen großen historisch-philosophischen Kontext gebracht wurde, ist verschwunden. Es gibt gute Gründe, warum wir uns von den großen Erzählungen befreit haben, warum wir nicht mehr jede Kleinigkeit, die wir gemacht haben, im großen marxistischen Kontext rechtfertigen müssen. Andererseits fehlt uns heute ein theoretisches, politisches, ideologisches Instumentarium, dank dessen wir die Welt anders sehen, verstehen und darauf reagieren würden als nur sehr pragmatisch. Wir müssen uns fragen, ob wir nicht gerade eine große Erzählung, eine Utopie oder ein historisch-philosophischen Konzept brauchen? In den frühen 90er Jahren verkündete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte. Vielleicht erleben wir gerade den erneuten Eintritt in die Geschichte, nur dass wir diesmal keine Vorstellung von ihr haben. Bis 1989 hatten wir sie bestimmt. Die Rechten sowie die Linken hatten ihr eigenes Konzept der Geschichte. Jetzt haben wir mehr als zwanzig Jahren in einer Zeit gelebt, in der das Konzept fehlte. Die Frage ist, wie wir zu ihm gelangen. Zu einem wahrhaft universelles Konzept, welches das, was ich tue, anders klassifiziert, als nur so, dass wir unseren Lebensraum schützen, unsere Häuser isolieren und gesund leben.
Sind die großen ideologisch veranlagten Aufstände in der letzten Zeit in viele kleine persönliche Revolten zerfallen? Unterscheiden sich die Menschen also hauptsächlich dadurch, was sie essen oder was sie tragen?
Ja, und es ist absurd und bizarr. Und natürlich steigern das die sozialen Netzwerke. So etwas wie Identität existiert derzeit nicht. Es betrifft den arabischen Frühling und die zeitnahe Grüne Revolution im Iran. Man spricht immer noch von einer Twitterrevolution. Das ist Schwachsinn. Der Einzige, der hier lacht, sind die Besitzer von Twitter und Google und die Regierenden generell.
© Martin Mařák
Kommt es Ihnen nicht so vor, als ob die sozialen Netzwerke die offene Unzufriedenheit der Menschen dämpfen? Wenn jemand früher protestieren wollte hat er ein Plakat gemalt und ging auf die Straße. Heute setzt er sich an den Computer, schreibt einen Kommentar und hat das Gefühl, dass er seine Meinung schon geäußert hat und dass das reichen würde...
Das spielt natürlich denjenigen in die Hände, die Macht haben. Veränderungen können nur echte Menschen im realen Raum hervorrufen. Macht hängt immer mit einer körperlichen Existenz zusammen. Auch ein gutes, besseres Leben hängt mit ihr und den Vorzügen zusammen. Es gibt keine Revolution ohne körperliche Präsenz. Heutzutage sind die Menschen mit der Selbstoptimierung beschäftigt. Und es fehlt auch eine konsistente Theorie darüber, wer das Subjekt der Veränderungen sein sollte. Dies kann kein Individuum sein, es muss eine zu bestimmende Gruppe sein. Es ist wichtig, sich die Frage zu stellen: Was ist das revolutionäre Subjekt unter postmodernen Bedingungen, in einer neoliberalen Zeit?
Der Roman beschäftigt sich auch intensiv mit der Frage, ob das menschliche Leben nicht nur aus vielen Möglichkeiten und Zufällen besteht, und ob wir ihm nicht erst nachträglich einen Sinn geben. Glauben Sie, das ist so?
Ja, von Natur aus. Erst nachträglich oder im Nachhinein sehen wir unsere Leben so, als ob sie eine logische Folge von rationalen Entscheidungen waren, eine Verkettung von Kausalitäten. Das ist natürlich nicht so. Und genau so, legt man Geschichte aus. Welches waren die Notwendigkeiten, was war Zufall. Darüber muss man sich einig sein, denn nur dann ist es möglich, eine Erzählung zu erschaffen. Dies gilt für die biographische Erzählung von Individuen als auch für große historische Prozesse. Für sie haben wir jedoch das Gefühl verloren. Für eine lange Zeit gab es dieses Geschichtsgefühl noch, vor dreißig Jahren habe ich es verstanden. Deshalb konnten wir über die Geschichte auf eine bestimmte Art und Weise erzählen. Es geht darum, dass man in dem Moment, wo die Geschichte wieder ins Spiel kommt, sagt, welchen Sinn das alles macht. Das gilt natürlich, im übertragenen Sinne und ansonsten auch für das individuelle Leben. Wie wir Ereignisse einordnen, welche Logik wir ihnen geben, hängt davon ab, wie wir es haben wollen.
War das auch der Grund, weswegen Sie Ihren Roman nicht als lineare Handlung strukturiert haben, sondern als Mosaik verschiedener Handlungen?
© Goethe-Institut
Die Handlungen muss der Leser selbst zusammenfügen. Er muss seine eigene Synthese erschaffen. Wenn Sie nicht erwarten, dass sich Ihnen der Sinn schon nach den ersten zehn oder zwanzig Seiten offenbart, wenn Sie es ganz lesen, werden Sie am Ende belohnt. Natürlich erschließt sich nicht alles, aber das meiste schon. Wie auch in der Geschichte, in der es Zufälligkeiten und unerklärliche Momente gibt, die wir gut sein lassen oder zugeben müssen, dass Kräfte dafür verantwortlich sind, von denen wir nichts wissen - der Teufel, Gott, oder so jemand.
Dennoch gibt es im Buch Das bessere Leben auch zahlreiche Parallelen, Kreise, die sich schließen. Ist das so, weil sie diese auch im Leben sehen, weil Sie darüber nachdenken, ob hinter den Dingen nicht doch ein geheimer Plan steckt? Oder ist es reiner Zufall, dass wir bestimmte Personen treffen?
Das passiert natürlich. Auf der anderen Seite sind einige Dinge sehr unwahrscheinlich und wir fragen uns, wer das inszeniert hat, ob das Zufall sein kann. Ich hab mit dieser Möglichkeit des Erzählens gespielt und habe es sehr genossen. Einige Dinge waren geplant, andere sind intuitiv entstanden. Wie wir im Leben so oft sagen: Das kann doch nicht wahr sein – und dann versuchen wir Gründe dafür zu finden. Bis zu einem gewissen Punkt kann man diese finden, aber hinter diesem Punkt ist etwas Unergründbares. Damit kann sich der Mensch nicht abfinden, er sagt sich, dass es doch einen Grund oder eine Bewegkraft geben muss. Und so denkt sich einer der Protagonisten in meinem Roman, dass alles geplant ist und entsprechend durchgeführt werden muss, während dem anderen in einem bestimmten Moment durch den Kopf geht, dass es keinen Plan gibt. Dass Gott über Pläne lacht. Und dazwischen denke ich bewegt sich unser Leben.
Gibt es Momente in Ihrer Vergangenheit, die immer wieder zurückkehren und sie darüber nachdenken, was wohl passiert wäre, wenn...
Ja, aber ich denke eher darüber nach, warum ich bestimmte Sachen nicht vor einem Jahr, fünf oder zwanzig Jahren gemacht habe. Warum erst jetzt, so spät?
Haben Sie darauf eine Antwort gefunden?
Erklärungen sind oft nur Ausreden. Es ist schmerzhaft, aber einfach, wir müssen akzeptieren, dass manche Dinge anders oder besser hätten ablaufen können. Man kann es aber auch positiv wahrnehmen. Ich kann mir sagen, dass ich Das bessere Leben nur schreiben konnte, weil ich auf eine bestimmte Art und Weise gelebt habe. Sie können sich fragen, ob es ein gutes Leben war. Wahrscheinlich hätte ich das andere Leben nicht sehr viel besser durchlebt. Oder vielleicht wäre ich glücklicher gewesen, aber hätte dieses Buch nicht geschrieben.
Wir sprechen miteinander hier in Prag. Waren Sie schon früher einmal hier?
Als Kind und Jugendlicher habe ich hier Hockey gespielt. Im Jahr 1969 habe ich an einem Jugendaustausch mit Sparta Prag teilgenommen. Es war seltsam: der Vater des ehemaligen Sparta-Torhüter war Architekt, der zum Maurer degradiert wurde und sagte zum Trainer, dass er mit seiner Familie nach Deutschland fliehen will. Als Sparta nach Krefeld kam, emigrierten gleich drei Familien. Erst später wunderte ich mich, dass sie sie haben gehen lassen. Dieser Architekt konnte mit seiner Frau nach Deutschland fahren, so als ob sie jemand loswerden wollte. In den 80er Jahren war ich dann öfters in Prag, weil ich noch andere Freunde hatte, die mit ihren Eltern 1968 ausgewandert waren und als Erwachsene wieder oft nach Prag fuhren. Zu dieser Zeit habe ich auch ein wenig den Prager Underground kennengelernt.