Der deutsche Dirigent Alexander Liebreich ist Chefdirigent des Rundfunk– Sinfonieorchesters in Prag. Im Gespräch verrät uns der Regensburger mehr über seine musikalischen Erlebnisse, seine bisherigen Erfahrungen und biografischen Beziehungen zu Prag und Tschechien.
Herr Liebreich, Sie haben jüngst Ihr erstes Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Prag dirigiert. Zu Tschechien haben Sie sogar eine biographische Beziehung. Spiegelt sich diese auch in Ihrem Verhältnis zur tschechischen Kultur und Musik wider?
Ja, ich glaube, wenn man aus seiner Biographie weiß, wo der Vater geboren ist, hat man eine Sensibilität der Kultur gegenüber. Das Schöne ist, dass wir in Europa Kulturgeschichte über die Grenzen hinweg haben. Ich habe im Prinzip eine tragische, aber ganz normale familiäre Geschichte, wie sie damals nach dem Zweiten Weltkrieg war: Mein Vater, der in Ústí nad Labem geboren ist, die Großeltern, die aus Brno sind, und die fliehen? mussten. Ich bin schon sehr früh, noch während des Kalten Krieges, in die Tschechoslowakei gefahren, weil ich es spannend fand, die Kultur zu kennen, in der die eigenen Wurzeln liegen. Mit dem Prager Rundfunk-Orchester, das hier zu Hause ist, komme ich nun ein kleines Stück nach Hause.“
Welche Rolle spielte die Musik bei diesem Bewusstwerden der eigenen Wurzeln?
Ich bin in Regensburg geboren, das damals Zonenrandgebiet war und relativ nah an der Grenze lag. Für mich war die Musik der östlichen Nachbarn immer wichtig und interessant, weil ich merkte, da gibt es in der Art der Sprache eine Art von Melos, etwas, was tief aus dem Herzen springt, etwas, was mit der Seele zu tun hat. Das habe ich im westlichen Teil oft vermisst. Das hat sicherlich mit den Klassikern zu tun, ob das ein Dvořák oder ein Janáček ist, aber am Schluss auch mit vielen jungen Komponisten.
Können Sie sich an Ihr erstes Treffen mit der tschechischen Musik erinnern? Als Hörer?
Ich habe von meinem Großvater zwei drei damals noch Kassetten bekommen. Es war natürlich Má vlast / Mein Vaterland von Bedřich Smetana. Mein Gott, wie klassisch es war, er hat es mir vermutlich bewusst geschenkt. Má Vlast und Beethovens Pastorale, die 6. Sinfonie, ich glaube mit Karajan und den Berliner Philharmonikern, waren zusammen auf einer Kassette, weil beides eigentlich von der Natur handelt. Also diese beiden Stücke habe ich nebeneinander kennengelernt.
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© Sammy Hart
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© Goethe Institut
Und als Dirigent? Sie haben bereits manche Werke tschechischer Komponisten einstudiert…
Meine eigentlich stärkste Berührung war die mit Sinfonietta von Janáček, weil ich während des Stücks meine Frau kennengelernt habe. Sie hat sieben Jahre in Netherlands Dance Theatre mit dem wunderbaren Choreographen, Jiří Kylián, zusammengearbeitet. Kylián hatte eine Choreographie mit Janáčeks Sinfonietta an der Bayerischen Staatsoper gemacht. Ich habe das gesehen und mir gesagt, das möchte ich unbedingt einmal dirigieren. Dazu kam es dann später hier in Prag, mit dem Polnischen Nationalen Symphonieorchester. Janáček hat mich immer fasziniert, weil er auf der Suche nach der Moderne eine Figur ist, die zwar irgendwie verwurzelt ist, aber trotzdem ein Neuerer war. Natürlich waren viele Dvořák-Symphonien bei Wettbewerben immer wieder da. Und mit Werken von Adámek oder Srnka habe ich auch viel moderne Musik gemacht.“
Seit 2012 sind Sie Chefdirigent des Nationalen Symphonieorchesters des Polnischen Rundfunks. Zuvor und parallel dazu haben sie das Kammerorchester München geleitet. Fallen Ihnen gewisse Unterschiede zwischen Ihrer Heimat und Polen beziehungsweise Tschechien auf?
Ja es gibt Unterschiede. Das Positive ist, dass der Standort wieder wichtiger als früher wird. Früher dachten wir in den westlichen Orchestern, es internationalisiert sich alles, alle Musiker durchmengen und durchmischen sich. Mittlerweile ist es so, dass in dem Nationalen Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks es 99 oder 100 Prozent polnische Leute sind. Das ist, im Positiven gesehen, interessant, weil es eine Art von eigener Attitüde gibt, die mit der Sprache und mit der Gesellschaft zusammenhängt. Im Negativen gesehen ist es auch eine Begrenzung. Ich merke es auch bei deutschen Orchestern, je nach Region. Im Süden ist es etwas musikantischer, man sagt es gibt dort eine größere Barocktradition. Und im Norden ist es oft etwas distanzierter, akademischer. Ähnlich gilt es auch hier: Ich finde, dass das Polnische Nationale Rundfunkorchester eher ein akademisches Orchester und das in Prag wiederum ein viel musizierkräftigeres ist.“
Sie gelten als heißer Kandidat für den Posten des Chefdirigenten des Rundfunk-Sinfonieorchesters Prag. Wie war Ihr erster Eindruck, nachdem sie zum ersten Mal gemeinsam geprobt haben?
Die erste Probe mit einem Orchester ist immer das Spannendste, es wird viel entschieden. Es hat sehr schnell viel Spaß gemacht, einfach zu musizieren. Und trotzdem analysiert man auch das Orchester sofort, und ich vermute, das Orchester tut es auch. Es gibt ein unglaubliches Potential. Prag ist eine der größten Musikstädte, die es in Europa gibt. Ich sage, Prag und Wien haben einen irrsinnigen Stellenwert, München auch ein bisschen, und dann kommt es schon. Zum Beispiel Berlin und Hamburg sind nicht solche Musikstädte. Hier ist schon einfach ein Kulturbewusstsein da.
Ein Dirigent kommt vor ein Orchester und vermittelt ihm seine Vorstellung über ein Werk, das sie dann gemeinsam präsentieren. Ein Chefdirigent arbeitet Jahre lang mit seinem Orchester und prägt dessen Entwicklung, Klang und Dramaturgie. Was ist für Sie spannender?
Für mich ist es ganz wichtig, einen festen Posten, irgendeine Verbindung zu haben, um langzeitig zu denken. Momentan ist ganz schwierig – in der Musikwelt, die so kurzgedacht und nur über ‚Brands‘ und ‚Big Names‘ fürchterlich langweilig geworden ist, weil alles so inflationär wird, – über klare Ideen, Wurzeln und Wege nachzudenken, die über mehrere Jahre gehen. Ich hatte das immer wieder erlebt, im positiven Sinne, bei Dirigenten wie zum Beispiel Celibidache, der die Münchner Philharmoniker wirklich auf einen Gleis gesetzt hat. Das war nicht ein so gutes Orchester, aber er hatte einfach eine Vision mit dem Orchester, und das hat ihm unglaubliche Kraft gegeben. Ein Gegenteil war Carlos Kleiber, der einfach eine Woche etwas gemacht hat und sonst kein Commitment hatte. Und trotzdem war die Woche dann großartig. Ich bin jemand, der nachhaltig einen Weg mit dem Orchester geht.