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Unternehmertum
Asbest. Franz Kafka als Unternehmer

Der Prager Altstädter Ring im Jahr 1908.
Der Prager Altstädter Ring im Jahr 1908. | © Verlag Klaus Wagenbach

Franz Kafka: Schriftsteller, Angestellter, Sohn, Bruder, Liebhaber, Vegetarier. Über den berühmten Prager Schriftsteller ist schon viel geschrieben worden, über den Unternehmer Franz Kafka hingegen noch nicht viel. Und doch ist die geschäftliche Tätigkeit in einer Prager Asbestfabrik in Kafkas Leben ein interessanteres Kapitel, als man denken könnte. Der Jurist und Autor Ulrich Fischer hat darüber ein hervorragendes Buch geschrieben: Eine Zusammenfassung und einen Einblick in Franz Kafkas Leben als gescheiterter Asbest-Unternehmer bietet nun sein Aufsatz für das Goethe-Institut.
 

Von Ulrich Fischer

Ein größerer städtebaulicher Unterschied ließ sich im Prag um 1910 kaum finden, als der zwischen einem auftrumpfenden, die noch ungebrochene K. K. Staatsmacht der Doppelmonarchie repräsentierenden Prachtgebäude unter der Adresse Na Poříčí 7 (heute: Hotel Century Old Town Prague) und einem Hinterhof in der damaligen Prager Arbeitervorstadt Žižkov, Bořivojova ulice 26/27 und der dortigen schäbigen „Baracke“.

In dem erstgenannten Gebäude befand sich damals eine für das Königreich Böhmen bedeutsame sozialpolitische Institution, die nach dem Vorbild der bismarckschen Sozialgesetze errichtete Arbeiter-Unfall-Versicherung-Anstalt für das Königreich Böhmen zu Prag (AUVA). Sie hatte die Aufgabe, die aufgrund der rasanten Industrialisierung Böhmens, das zu einem industriellen Zentrum Europas aufgestiegen war, außer Kontrolle geratenen Arbeitsunfälle durch Prävention und nachsorgende Unterstützung der Arbeiter Einhalt zu gebieten.

Sie war geradezu für ein solches Unternehmen geschaffen worden, das sich in dem zweitgenannten Gebäude ab Januar 1912 etabliert hatte: Die neu als offene Handelsgesellschaft (OHG) gegründete Firma mit dem hochtrabenden Namen Prager Asbestwerke Hermann & Co., tschechisch: Pražská továrna na azbestové zboží, also in der wörtlichen deutschen Übersetzung Prager Fabrik für Waren aus Asbest Hermann und Co., eine Bezeichnung, die den tatsächlichen Verhältnissen deutlich näher kam.

Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Dass Franz Kafka, der einzige Sohn des Kaufmanns Hermann Kafka, der am Altstädter Ring erfolgreich ein Geschäft für Galanteriewaren en gros und en detail führte, nicht geneigt gewesen war, in diesem Betrieb nach einem nur mit mäßigem Eifer knapp erfolgreich abgeschlossenen Jurastudium unter der strengen Hand seines Vaters tätig zu werden, ist bekannt. Als JUDr. hatte er auch keine Neigung gezeigt, wie die meisten anderen jüdischen Juristen Böhmens und Österreichs damals, Anwalt zu werden, da ihnen die richterliche Tätigkeit versagt war. Nach einem kurzen Berufseinstieg bei der Prager Niederlassung der damals größten österreichischen Versicherungsgesellschaft, der Assecuracioni Generali aus Triest wechselte Franz Kafka 1908 in das herrschaftliche Gebäude der AUVA, in der Hoffnung, durch die so ermöglichte „einfache Frequenz“, also einen 6 Stunden-Tag, mehr Zeit für seine eigentliche Leidenschaft, die Schriftstellerei zu haben.

Weniger bekannt ist, dass Franz Kafka auch in dem zweitgenannten Gebäude, der Hinterhofbaracke in Žižkov, beruflich tätig war. Denn er war der „Co.“, ein persönlich mit seinem Vermögen haftender und alleinvertretungsberechtigter Gesellschafter, der Prager Asbestwerke. Sein Mitgesellschafter war sein Schwager Karl Hermann, der Mann seiner Schwester Gabriele, genannt Elli, den Zeitgenossen als leichtsinnigen Dandy bezeichnen sollten. 30.000 Gulden betrug die Mitgift für Elli und diese Summe spendierte Hermann Kafka auch seinem Sohn Franz, mit der Maßgabe, zusammen mit seinem Schwager in das Asbestgeschäft einzusteigen. Franz Kafkas Jahresgehalt zu dieser Zeit betrug 3381 Kronen. Rechnet man das um auf eine (Vollzeit-)Beamtenbesoldung nach A 14, Stufe 2, (Stand 2022), so entspräche das heute einem Betrag von ca. 500.000 EUR.

Hoffnung auf Glück

Weder Franz Kafka noch sein Schwager hatten die geringste Ahnung von der kaufmännischen Führung eines Industrieunternehmens, noch wiesen sie Kenntnisse auf dem technischen Gebiet auf, auf dem sich ihre Firma betätigen wollte: Asbest und damit zusammenhängende Materialien, das war vor allem Gummi, die vor allem für Dichtungen jeder Art, insbesondere für Motoren, eingesetzt wurden.

Wir können annehmen, dass Vater Kafka zwei Motive für seine großzügige Ausstattung des Unterfangens hatte: Zum einen die Hoffnung, seinen Sohn Franz, dessen Tätigkeit in der AUVA sein Wohlgefallen nie gefunden hatte und der auch der Schriftstellerei nichts abgewinnen konnte, in die Welt wirtschaftlichen Erfolges und Aufstiegs zu führen. Und zum anderen die Hoffnung, mittelbar durch sein Investment in ein Wundermaterial, das damals in aller Munde war, ohne dass man auch nur annähernd ahnte, welche verheerenden gesundheitlichen Folgen es für die damit in Berührung kommenden Menschen hatte, aufzusteigen, ohne selbst namentlich ins Risiko zu gehen. Und Franz Kafka: Ja, er war an allem technisch Neuem interessiert und hatte er eine lebenslange Faszination für die gerade aufkommende Fliegerei. Und gerade hier war der Asbest ein begehrter Stoff für die Dichtung der Motoren. Aber vielleicht war es ganz simpel: In der Mariengasse Nr.18, hier wohnte Karl Hermann, residierte die Prager Niederlassung der großen Hamburger Asbestfirma Asbest- und Gummiwerke Calmon AG und in der Nummer 9 die der Firma Semperit Österreichisch-Amerikanische Gummi Werke GmbH, die sich 1913 mit Calmon zusammenschloss.

Unter einem unguten Stern

Doch durfte überhaupt ein bei der AUVA beschäftigter „Versicherungsbeamter“ alleinvertretungsberechtigter Gesellschafter einer Firma sein, die in die Zuständigkeit gerade dieser Arbeitsschutzbehörde fiel? Die Rechtslage war klar: Jede Nebentätigkeit bedurfte einer Genehmigung durch die Behörde. Und dann, wenn durch diese Nebentätigkeit die Besorgnis einer Befangenheit bestand, durfte eine Genehmigung nicht erteilt werden. Hatte Franz Kafka eine Genehmigung? In seinen vollständig erhaltenen Personalakten findet sie sich nicht und so stand schon der Beginn des Unternehmens unter einem unguten Stern der offensichtlichen Rechtswidrigkeit, die zu einem psychologischen und damit belastenden „double bind“ Kafkas führte: Der Verzicht auf die Nebentätigkeit hätte die prekäre Beziehung zum Vater stark belastet; die Anzeige der Nebentätigkeit hätte das Ende der Beschäftigung bedeutet.

Das gescheiterte Doppelleben

Als im Frühjahr 1912 die Produktion begann, bot sich kein Bild moderner Industrieproduktion, sondern im Gegenteil ein jämmerlicher Anblick, der allen arbeitsschutzrechtliche Vorgaben Hohn sprach: Unter der technischen Leitung eines „reichsdeutschen“ fachkundigen Meisters mussten 25 tschechische  Arbeiterinnen im lärmenden Geratter von gebrauchten Gasmotoren, von denen die Treibriemen ständig absprangen und die immer wieder durch Undichtigkeiten einen Gasgeruch auftreten ließen, ohne jede Schutzkleidung in asbeststaubverseuchter Luft ihr schlecht bezahltes Tagwerk verbringen. Wie gut, dass es keine Betriebsbesichtigung durch die AUVA gab.

Kafkas Doppelleben als Versicherungsbeamter und Schriftsteller hatte sich also zu einem Tripelleben entwickelt. Das konnte ebenso wenig gut gehen, wie das Asbestabenteuer. Das erste Opfer war Franz Kafka selbst: Die Reibereien mit dem Vater und seinem Schwager, weil er es einfach nicht aushielt, seine kostbare freie Zeit der „jammervollen Fabrik“ zu opfern. Die ständigen Selbstzweifel und Selbstbezichtigungen, den Vater zu enttäuschen, das eingesetzte Kapital zu verspielen, seiner Unfähigkeit als Vorgesetzter und Chef Autorität auszuüben, all das führte zu depressiven Zuständen und der Unfähigkeit zu schriftstellerischer Arbeit. Ja, es drohte ein Suizid. Max Brod, dem engsten Freund, ist es zu verdanken, dass Kafkas Mutter Julie ihrem Sohn bei seiner Flucht aus der Fabrik Rückendeckung gab. Auf sie ging es zurück, dass Karl Hermanns jüngerer Bruder Paul – obwohl auch er keinerlei Vorkenntnisse hatte – als neuer Gesellschafter aufgenommen wurde und Kafka somit immerhin etwas entlastete.

Doch als zum Kriegsbeginn 1914 Karl Hermann eingezogen wurde, lastete die Verantwortung auf Kafka, der sich – kriegsbedingt musste er nun 8-10 Stunden in der AUVA täglich arbeiten – nur mühsam aufraffen konnte, die im Niedergang befindliche Fabrik aufzusuchen.

Nicht nur, dass die Konkurrenz der Großunternehmen, die sich zu einem Kartell zusammengeschlossen hatten, übermächtig war, nicht nur, dass der deutsche technische Leiter und dann auch Paul Hermann eingezogen wurde, auch die Belieferung mit Rohstoffen kam aufgrund der Kriegsereignisse fast völlig zum Erliegen. So war es nur eine Frage der Zeit, dass der Geschäftsbetrieb eingestellt werden musste. Immerhin gelang es, das Betriebsgebäude und die noch vorhandenen Einrichtungsgegenstände an ein von Calmon und Semperit, die Firma Prager Asbest-und Gummiwerke G.m.b.H. zu veräußern. Nun konnte die Liquidation des Firmenmantels betrieben werden, die im Juli 1918 erfolgte. Ein publizitätsträchtiger, rufschädigender Konkurs war somit abgewendet worden. Der Gemeinschaftsbetrieb von Semperit und Calmon überstand den Krieg und wurde 1929 liquidiert.

Paul Hermann gründete die Firma Böhmische Asbest und Gummiwerke Hermann und Co., die Mitte der Zwanzigerjahre in die Firma Asbestos Asbest- und Gummiwerke in Zvěřínek eingebracht wurde. Das Unternehmen überstand die deutsche Okkupation, die kommunistische Enteignung und die Wirren der Wende und ist heute unter dem Namen TEMAC a. s. zu einem der führenden europäischen Hersteller auf dem Dichtungsmarkt aufgestiegen.
 

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