Populismus
Das Verschwinden der Gatekeeper
Schriftsteller beklagen, dass Bilder von ihren Katzen sich in den sozialen Medien größerer Beliebtheit erfreuen als ihre Essays über den Zustand der Welt.
1897 tauchte auf der Titelseite der New York Times erstmals das Motto All The News That’s Fit To Print auf, also frei übersetzt: „Alle Nachrichten, die es wert sind, gedruckt zu werden“. Dieser Slogan ziert bis heute die wohl bekannteste Tageszeitung der Welt – er wurde unzählige Male gelobt, kritisiert und parodiert.
Von Łukasz Lipiński, Polityka.pl
Redakteure als Torwächter
Die zentrale Frage lautet seit jeher: „Wer entscheidet, ob eine Nachricht es wert ist, gedruckt zu werden, oder nicht?“. Viele Jahre lang war die Antwort ganz einfach. Über die Auswahl der vermittelten Inhalte entschieden die Redakteure der wichtigsten Medien – der Presse und später auch des Radios und des Fernsehens. Metaphorisch wurden sie als Gatekeeper, also als Torwächter, bezeichnet.Die Redakteurinnen und Redakteure der führenden Zeitungen und Rundfunksender waren über viele Jahrzehnte hinweg die Wächter des Informationsflusses im öffentlichen Raum. Ihre Aufgabe war es, für die Qualität, Glaubwürdigkeit, Aktualität und Relevanz der veröffentlichten Nachrichten und Beiträge zu sorgen. Sie waren erfahrene Journalisten, die sich ihr ganzes Berufsleben auf die Erfüllung dieser Aufgabe vorbereitet hatten. Ihre Arbeit wurde zum Stoff von Spielfilmen – zum Beispiel 1976 Die Unbestechlichen über die Watergate-Affäre und 2015 Spotlight über den Bostoner Kirchenskandal.
Dieses System hatte seine Vor- und Nachteile. Einerseits selektierten und kontrollierten die Gatekeeper die in Umlauf gebrachten Informationen. Andererseits herrschte Klarheit darüber, wer für ihre Verbreitung – auch im juristischen Sinne – verantwortlich war.
Charlie bit my finger
Heute leben wir in der digitalen Welt des Internets und mobiler Endgeräte. Einer Welt, in der jeder zum Redakteur werden und seine eigenen Nachrichten und Kommentare veröffentlichen kann. Und in vielen Fällen wissen wir nicht einmal, wer für eine Nachricht verantwortlich ist, denn möglicherweise versteckt sich der Urheber hinter einer falschen Identität.Die Anonymität, die die digitalen Medien de facto bieten, resultiert in einem Mangel an Verantwortung für die veröffentlichten Inhalte. Wir leben in einer Zeit der Clickbaits – reißerischer Überschriften, die unsere Neugierde wecken sollen, denn Klicks bedeuten Geld – und Fake News – gefälschte oder erfundene Nachrichten, mit denen die Öffentlichkeit für politische oder kommerzielle Zwecke manipuliert werden soll.
Der Begriff des „Graswurzel-Journalismus“ sollte die Vorzüge einer Welt herausstellen, in der wir alle Journalisten sind. Doch es zeigte sich schnell, dass es in einer solchen Welt niemanden gibt, der über die Qualität der verbreiteten Nachrichten wacht.
Der allgemeine Zugang zu mehr oder minder wertvollen Informationen hat zum Zusammenbruch der traditionellen Geschäftsmodelle der Medien – dem Vertrieb von Informationen und dem Verkauf von Werbung – geführt. Die sinkenden Einnahmen machten Einsparungen in den Redaktionen erforderlich, die sich wiederum in der sinkenden Qualität der veröffentlichten Beiträge niederschlugen. Die Medien begannen, sich an die neuen Bedürfnisse von Rezipienten und Werbenden anzupassen.
Ein Musterbeispiel für diese Veränderung des Medienmarkts war das Video „Charlie bit my finger“, das 2007 das meistgesehene Video weltweit war und bis heute über 860 Millionen Mal angeschaut wurde.
Technologie, Globalisierung, Unterhaltung
Entscheidend für diesen Wandel war der technologische Fortschritt: Die stetige Steigerung der Rechenleistung integrierter Schaltkreise (Mooresches Gesetz) hat dazu geführt, dass wir heutzutage Supercomputer mit uns herumtragen, deren Möglichkeiten uns noch vor einem Jahrzehnt unvorstellbar erschienen wären. Darüber hinaus sind diese Geräte auch noch ständig miteinander verbunden: Der Siegeszug des Internets hat den Informationsfluss zusätzlich beschleunigt. Parallel dazu schreitet die Globalisierung voran und schafft wechselseitige Abhängigkeiten zwischen weit voneinander entfernten Regionen. Diese beiden Prozesse haben dazu geführt, dass Informationen quasi in Echtzeit von einem Ende der Welt an das andere gelangen.Zur gleichen Zeit geriet in der westlichen Welt – aufgrund einer Verkettung politischer und wirtschaftlicher Faktoren, darunter auch der Finanzkrise 2008 – die Kultur des Vertrauens in Experten und Autoritäten ins Wanken. Und das Aufkommen der sozialen Medien hat dazu geführt, dass wir heute zunehmend Menschen vertrauen, die uns ähnlich sind (oder die sich dafür ausgeben) – ein bekannter Vertrauensmechanismus, der von den Medien verstärkt und vervielfacht wurde.
In der globalen Mangel
Die neuen Technologien haben dazu geführt, dass sich Nachrichten schneller und weiter verbreiten, jedoch gleichzeitig auch ihr Niveau gesenkt – viele Rezipienten wollen sich lieber unterhalten lassen, als sich mit ernsten Themen auseinanderzusetzen. Schriftsteller beklagen, dass Bilder von ihren Katzen sich in den Sozialen Medien größerer Beliebtheit erfreuen als ihre Essays über den Zustand der Welt.Die Desinformation schreitet nahezu ungehindert voran – es gibt niemanden, der all die aufkommenden Falschmeldungen, Gerüchte und Verschwörungstheorien auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen könnte. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Falschmeldungen sich in den Sozialen Medien schneller und häufiger verbreiten als wahre Nachrichten.
37 Prozent der EU-Bürger geben an, fast täglich mit Falschinformationen konfrontiert zu sein, 85 Prozent erachten sie als ein Problem in ihrem Land, und 83 Prozent sehen in ihnen eine Gefahr für die Demokratie – so die Ergebnisse des Eurobarometers vom Februar 2018. Der parallele Umlauf ungeprüfter Informationen spielt eine immer größere Rolle. In dieser „globalen Mangel“ verbreiten sich zahlreiche falsche Theorien, zum Beispiel über die Schädlichkeit von Impfungen.
Fake News beeinflussen auch die öffentliche Debatte, sie begünstigen Populisten und Systemgegner. In den USA wird noch immer über den möglichen Einfluss von russisch gesteuerten Falschmeldungen auf die Präsidentschaftswahl 2016 diskutiert und in Großbritannien erschienen dokumentierte Informationen über den Einfluss von Fake News auf das Ergebnis des Brexit-Referendums.
Eine Renaissance der Medien?
Doch die sinkende Qualität von Informationen und das sinkende Niveau der öffentlichen Debatte sind keine unvermeidlichen Entwicklungen. In den vergangenen Jahren erleben die traditionellen Medien – zumindest in gewissen Bereichen – eine Renaissance. Ein gutes Beispiel hierfür ist die oben bereits erwähnte New York Times, die es auf 2,5 Millionen digitale Abonnenten gebracht hat.Der Wachstumstrend betrifft digitale Abonnements. In Polen spielen in diesem Bereich die Tageszeitung Gazeta Wyborcza und die Zeitschrift Polityka eine führende Rolle. Immer mehr Menschen sind bereit, für hochwertige journalistische Inhalte zu zahlen, so wie sie für Filme und Musik zahlen.
Auch die digitalen Medien leisten einen Beitrag zur Wiederherstellung journalistischer Standards. Weltweit entstehen immer mehr Fact-Checking-Services, die im Internet verbreitete Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Und führende Technologieunternehmen wie Facebook und Google investieren zunehmend in die Bekämpfung von Fake News.
Medien, Unternehmen und Regierungen sollten Medienkompetenz fördern, um Rezipienten auf das Leben in einer immer komplizierter werdenden Informationsgesellschaft vorzubereiten. In diesem Sinne kann jeder von uns zu einem Gatekeeper werden.
Die weitgehendsten Maßnahmen im Kampf gegen Online-Desinformation präsentierte der französische Präsident Emmanuel Macron. Sie umfassen eine verbindliche Kennzeichnung gesponserter Inhalte und gerichtliche Eilverfahren zur Löschung von Falschmeldungen. Experten halten entsprechende Maßnahmen in der Welt der neuen Medien für ungeeignet.
Was können wir tun?
Die Anzeichen für eine Renaissance der Medien geben Anlass zu der Hoffnung, dass es zumindest in einem Teilbereich der öffentlichen Debatte möglich ist, wieder professionelle Gatekeeper einzusetzen, die dabei helfen, Informationen zu selektieren und zu hierarchisieren, und die für die Qualität der veröffentlichten Beiträge sorgen.Eine besondere Rolle bei der Wiederbelebung der öffentlichen Debatte könnten die lokalen Medien spielen, die weniger anfällig für politische Polarisierung sind und deren Informationen sich leichter überprüfen lassen. Die traditionellen Medien können ihre Position stärken, indem sie in digitale Technologien investieren und Partnerschaften mit Technologieunternehmen eingehen. Letztere wiederum sollten wesentlich stärker in Maßnahmen zur Einhaltung journalistischer Standards investieren.
Sowohl die traditionellen Medien als auch Technologieunternehmen, Regierungen und Kommunen sollten Initiativen zur Stärkung der Medienkompetenz fördern, um Rezipienten auf das Leben in einer immer komplizierter werdenden Informationsgesellschaft vorzubereiten. In diesem Sinne kann jeder von uns zu einem Gatekeeper werden, auch wenn er professionelle Journalisten und Redakteure nicht zu ersetzen vermag.
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