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H. H. Ewers
Fundvogel – ein deutscher Horror-Klassiker neu entdeckt

Hanns Heinz Ewers, um 1907. Foto von Rudolf Dührkoop und Minya Diez-Dührkoop
Hanns Heinz Ewers, um 1907. Foto von Rudolf Dührkoop und Minya Diez-Dührkoop | © gemeinfrei

Die Geschichte über einen chirurgischen Eingriff, inspiriert durch Experimente in Berliner und Dresdner Kliniken, löste damals große Kontroversen aus. Die Nazis wollten das Werk eliminieren, heute gilt der zweifellos zeitlose Roman Fundvogel aus dem Jahr 1928 als Schlüsselwerk des Schriftstellers Hanns Heinz Ewers, eines der bemerkenswertesten Genies der Zwischenkriegszeit. 2023 erschien der Roman unter dem Titel Nalezené ptáče FundVogel auf Tschechisch

Von Martin Jiroušek

Gwinnie hat einen Selbstmordversuch hinter sich, denn die Frau, in die sie verliebt ist, erwidert ihre Liebe nicht. Gwinnies Vater Parker Briscoe, ein Finanzmagnat von der Wall Street, ist ganz aufgebracht. Er sucht die betroffene Frau auf und drängt sie zu etwas Undenkbarem: sie soll einen Vertrag unterzeichnen und sich zu einer Geschlechtsumwandlung verpflichten. So beginnt der Roman, der zum Zeitpunkt seiner Entstehung wie künstlerischer Sprengstoff wirkte und nicht nur sexuelle Minderheiten gegeneinander ausspielte. Knapp hundert Jahre nach seinem Erscheinen kann der Roman des deutschen Skandalautors Hanns Heinz Ewers (1871-1943) als bahnbrechendes und mutiges Werk betrachtet werden, denn es behandelt Themen wie das soziale Geschlecht und die operative Geschlechtsumwandlung.

Ein unerhörter Vorschlag

Es handelt sich um eine der ergreifendsten Geschichten des 20. Jahrhunderts: Eine Frau muss sich in einen Mann verwandeln, um ein gleichgeschlechtliches Wesen lieben zu dürfen. Die scheinbar absurde Handlung erzählt das Schicksal von Andrea Woyland, genannt Fundvogel, der bis zu einer Million Dollar in Aussicht gestellt werden. Briscoe hat nur eine Bedingung: eine Operation! Andrea ist entschlossen, sich dem Eingriff zu unterziehen, denn sie ist der Ansicht, dass ihr bisheriges Leben misslungen ist. Sie geht nach Europa, denn nur dort gibt es Menschen, die für Geld alles tun. Aber will sie diese Verwandlung wirklich? Immerhin liebt sie Gwinnie nicht. Doch da gibt es noch einen anderen Grund, sich operieren zu lassen.

Bei Andreas Rückkehr nach Deutschland werden alte Phobien und dunkle Erinnerungen an eine Jugendliebe – ihren Cousin Olieslagers – wach. In ihrer Jugend haben die Vorfälle auf dem Anwesen ihrer übermächtigen Großmutter eine bis dahin unerkannte Sehnsucht in Andrea ausgelöst. Es besteht kein Zweifel, dass sie seit ihrer frühen Jugend auf der Suche nach ihrer Identität ist. Findet sie diese?

Horror mit wissenschaftlichem Hintergrund

Ewers Werk balanciert erfolgreich auf dem Grat zwischen Initiationsroman und trivialer Sensation. Obwohl Hanns Heinz Ewers (1871-1943) nie zur anspruchsvollen Literatur gezählt wurde, gelang es ihm doch, eine bemerkenswerte Spannung zwischen dem Anspruchsvollen und dem Einfachen, zwischen dem Extrem-Erschreckenden und dem Psychologisch-Atmosphärischen zu erzeugen und diese auch zu steigern. Sein Werk ist beeinflusst von Klassik und Romantik, von Goethe, Schiller, Poe, E. T. A. Hoffmann, Villiers de L'Isle-Adam, aber auch von Oscar Wilde. Ewers selbst kann sehr nüchtern, hart und kalt sein. Vielleicht sind es gerade diese Distanz und seine Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen, die ihn zu überraschenden Ergebnissen befähigen. Auch die heutige Leserin und der heutige Leser werden begeistert sein und den Fundvogel mit angehaltenem Atem und voller Spannung lesen.

Der Autor beschreibt die Verwandlung von Andrea in geradliniger, anspruchsvoller und verantwortungsbewusster Weise. Ewers arbeitet im Geiste des psychologischen Horrors und eröffnet uns eine Geschichte, die eines modernen Frankensteins würdig ist. Er nutzt die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft und scheut sich nicht, schockierende Details über Operationen zur Geschlechtsumwandlung zu erzählen, die zu seiner Zeit in einigen Kliniken in Berlin und Dresden stattfanden. Dabei stützt er sich vor allem auf persönliche Kontakte zu dem renommierten Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der den Spitznamen „Einstein des Sex“ trug.

Der Skandalautor Ewers brachte seinen kontroversen Stil bis zur Perfektion. Sein bekanntester Roman Alraune – die Geschichte eines lebenden Wesens (1911), eine Variation auf eine alte germanische Legende, thematisiert die genetische Modifizierung eines Wesens, das aus der Verbindung einer Prostituierten und eines hingerichteten Verbrechers hervorging. Bei Ewers tritt die Fantastik zugunsten bizarrer Fakten in den Hintergrund. Ewers' Horror ist effektiver, wirklich beängstigend und schaurig-unangenehm, denn er beruht auf konkret belegten Fakten.

Faszinierend und verflucht

Fundvogel ist ein Werk von außerordentlicher Qualität, allein durch sein Thema, an dessen Bearbeitung sich kaum jemand wagte. Auf Tschechisch erschien das Buch erst neulich, dank dem Verlag Protimluv und in der Übersetzung der Germanistin Ingeborg Fialová-Fürstová. Bereits 80 Jahre vergingen seit Ewers' Tod; inzwischen haben sich auch Künstler wie H. P. Lovecraft oder Aleister Crowley zu seinem Werk bekannt.

Ewers Leben war voll von dunklen Momenten, genau wie die Figuren aus seinen Werken. Seine Verlobte beging Selbstmord, sein Freund Gustav Klimt starb, nachdem er ihr Porträt gemalt hatte. Auf der Suche nach Seelenfrieden reiste Ewers kurz vor dem Ersten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten. Dort arbeitete er als deutscher Spion, wurde aber entdeckt und gefangen genommen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland (er wurde erst 1920 freigelassen) versuchte er vergeblich, seinen früheren Status als skandalumwitterter Superstar wiederzuerlangen. In der Weimarer Republik wandte er sich allmählich vom Kosmopolitismus ab und wurde zum Nationalsozialisten. Er gelangte bis in den inneren Kreis um Adolf Hitler, dennoch wurde Ewers' Romanverfilmung über den NS-Helden Horst Wessel von Joseph Goebbels verboten. Nach einem gescheiterten Attentat auf Ewers im Zuge des Röhm-Putsches beschlagnahmten die Nazis sein Vermögen. Ewers' Bücher, darunter auch das Transgender-Manifest Fundvogel, wurden zusammen mit den Werken von Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Erich Kästner und vielen anderen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Ewers, der 1943 im Alter von 72 Jahren in Berlin starb, haftet noch immer das Stigma eines Nazi-Autors an – zum Teil zu Unrecht, denn er war beispielsweise kein Antisemit, sondern schützte viele seiner jüdischen Freunde. Sein Werk und auch seine kontroversen Ansichten machten Ewers zu einem programmatisch nonkonformistischen Künstler, der vor nichts und niemandem Halt macht. Zweifellos hat Ewers die Geschichte der multimedialen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt und war seiner Zeit weit voraus. Er galt und gilt als ein Klassiker des modernen deutschen Horrors. Infolge des kommunistischen Totalitarismus, in dem auch seine Werke nicht veröffentlicht werden durften, wird er erst langsam wiederentdeckt. Viele von Ewers' Werken warten noch auf ihre Wiederentdeckung. Fundvogel macht in diesem Fall den Anfang.

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