Von und über Daniel Kehlmann
Der aus einer Künstlerfamilie stammende, in München geborene aber in Wien aufgewachsene Kehlmann ist aus der heutigen deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken. Sein Roman Ich und Kaminski verschaffte ihm erstmals die Aufmerksamkeit, die für die Arbeit als Autor so wichtig ist. Der Roman Die Vermessung der Welt machte ihn zum Star. Heute schreibt Kehlmann neben Romanen auch für das Theater und arbeitet als Dozent und Professor an diversen Universitäten; aktuell an der New York University. Auch wenn die Werke von Kehlmann thematisch weit auseinandergehen, sind sie doch geeint durch die Vorstellung des Autors, dass „Literatur die Kunst des genauen Hinschauens [ist], die Kunst der Überraschung und der Beschreibung, die versucht, einen neuen Blick auf Dinge zu werfen.“ Es ist genau dieser Anspruch an die Arbeit, die Kehlmanns Werke so bestechend machen.
Nach dem Welterfolg des Romans Die Vermessung der Welt (Vyměřování světa) kehrt Daniel Kehlmann mit einem neuen historischen Roman zurück, diesmal aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Es ist die Geschichte des Gauklers Tyll Ulenspiegel, einer Figur aus der Welt an der Grenze zwischen Geschichte und Magie, Fiktion und Realität. Ins Tschechische wurde es durch Michal Půček übertragen.
Nach mehr als zehn Jahren, die seit der Veröffentlichung des Welterfolgs des Romans Die Vermessung der Welt (Vyměřování světa) vergangen sind, kehrt Daniel Kehlmann in seinem jüngsten Werk Tyll zu einem historischen Thema zurück. Es wäre jedoch nicht Kehlmann, um jeden Preis originell, wenn es so einfach wäre. Während Carl Gauss und Alexander von Humboldt, die Protagonisten aus der Vermessung der Welt, zweifellos historische Persönlichkeiten sind, ist die Person des Eulenspiegel, auf die sich Kehlmann bereits im Titel seines neuen Romans beruft, nicht historisch belegt und gehört eher zur Weltliteratur als zu einer konkreten geschichtlichen Epoche. Es handelt sich um die mythische Gestalt des Gauklers Till Eulenspiegel, der im 13. Jahrhundert gelebt haben soll; zumindest behauptet es so eine Sammlung seiner Streiche aus der Zeit um 1510, bei der nur der Name des Herausgebers, nicht aber der des Verfassers bekannt ist.
© Argo Ein schwarzes Seil, das den blauen Himmel durchtrennt
Die Streichesammlung vom Beginn des 16. Jahrhunderts war zu ihrer Zeit ein Bestseller, sie wurde in andere Sprachen übersetzt und verbreitete sich auch jenseits der Grenzen des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Die Gestalt des Till Eulenspiegel wurde von Literaten als Stimme eines Narren verwendet, der gegen die Macht auftritt und dem eine solche Kritik erlaubt ist, als Stimme, die stellvertretend für die Stimme des Volkes oder für die Stimme eines gewitzten Individuums, das sich durch Hohn von der dumpfen, schwerfälligen Masse abhebt, stehen konnte, aber nicht musste. Tills Streiche bewegten sich immer an der Grenze zwischen Witz und Grausamkeit. Je mehr Till zugeschriebene Streiche hinzukamen, desto mehr wurde er zu einer Gestalt, die ihren Namen wechselte, je nachdem, in welchem Land sie umging, und die sogar auch den Gesetzen der Zeit trotzte. Sie erhielt also mit der Zeit Attribute, die sie schließlich zu einer Legende werden ließen, die in der Lage war, Zeit und Ort hinter sich zu lassen.
Diese Variabilität und Vielschichtigkeit der Gestalt und auch des Spiels mit Fakten und Fiktion macht sich Kehlmann zu eigen und reichert sie mit seinem eigenen Erzählstil und Themen an, die ihn bereits seit seinem frühen Erstlingswerk in Romanform Beerholms Vorstellung (Beerholmova představa, 1997) beschäftigen, wie z. B. das Überschreiten der Grenzen zwischen Zeit und Raum, Realität und Phantasie usw. Durch den Titel Tyll verknüpft Kehlmann den standardisierten Namen des Gauklers Till mit dem niederdeutschen Dialekt, wo dieser in der Form „Tyll“ verwendet wird, und setzt die Gestalt aus dem Spätmittelalter in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hinein. Die historisch umstrittene Figur verortet er so in konkreten Ereignissen mit realen historischen Persönlichkeiten; zu den markantesten gehört beispielsweise Friedrich von der Pfalz, der als „Winterkönig“ bekannt ist, doch im Buch ist beispielsweise auch von seiner Frau Elisabeth Stuart, dem deutschen Gelehrten Athanasius Kircher oder dem Schriftsteller Adam Olearius zu lesen. Dies schlägt sich natürlich auch im Aufbau des Romans nieder.
Die historischen Ereignisse erhalten so einen Hauch von Fiktion, das Gewicht dessen, dass es sich um Fakten handelt, wird plötzlich von Zweifeln entspannt, indem die Möglichkeit eingeräumt wird, dass sich alles auch anders abgespielt haben könnte und dass alle zur Verfügung stehenden Quellen nur die Spitze eines Eisbergs sind, unter der Kräfte und Gegenkräfte wirken, von denen niemand mehr etwas erfahren wird. Auch die historischen Gestalten verändern sich in diesem Spiegel, erneut kann hier als gutes Beispiel die Figur des Friedrich von der Pfalz herangezogen werden, der im Laufe des Erzählflusses aus den historischen Chroniken verschwindet und auf die fiktive Ebene seines Beinamens „Winterkönig“ übergeht. Die Phantasieelemente gewinnen an Glaubhaftigkeit, sie sind wie verlorene Mosaiksteinchen, ohne die das Werk zwar seinen historischen Wert für künftige Generationen hat, ihm jedoch der Kontext fehlt, in dem es auf die Menschen damals wirkte.
Kehlmanns Roman wiegt somit die Spannung zwischen Fakten und Fiktion auf, genauso wie sein Protagonist bereits in der Eingangsszene im ersten Kapitel auf einem gespannten Seil balanciert. Übrigens übernimmt dieses gespannte schwarze Seil, dass den schwarzen Himmel durchteilt, Stellvertreterfunktion und taucht in veränderter Form auch in jedem Werk Kehlmanns auf. Es ist die Verbindung des Unendlichen mit einer festgelegten Raumzeit, von Ewigkeit mit Sterblichkeit, Physik und Metaphysik, Bekanntem und Unbekanntem. Derart symbolisch ist auch der gesamte Roman aufzufassen, der zwar in einer klar definierten historischen Zeit spielt, der jedoch die Grenzen des historischen Romans hin zu neuen Möglichkeiten verschiebt, wie sich über dieses Genre zur Gegenwart sprechen lässt.
Das unsichtbare Brünn
Die seltsame Zeitlosigkeit, die trotzdem in einer konkreten historischen Zeit verankert ist, geht nicht nur von der Erzählstruktur des Romans aus, der in der Zeit springt, sondern auch die Erzählperspektive, durch die wir die bekannten historischen Ereignisse betrachten. Nirgendwo wird dies so deutlich wie im vorletzten Kapitel, das sich in der Zeit der Belagerung Brünns durch die Schweden abspielt.
Statt dass der Autor – einhergehend mit der guten Tradition des konventionellen historischen Romans – die Ergebnisse seiner sorgfältigen Recherchen und Kenntnisse eröffnet und versucht, für den Leser das historische Ereignis vor dessen Augen erstehen zu lassen, statt die Dynamik von Belagerten und Belagernden zu nutzen, pendelt er zwischen den verfeindeten Lagern und der von der Welt abgeschnittenen Bevölkerung, Kehlmann hat sich für eine ungewöhnliche Erzählperspektive entschieden, die fast nichts vom laufenden Konflikt durchdringen lässt. Das ganze Kapitel spielt nämlich unter der Erde, wo Tyll zusammen mit den anderen Soldaten als Bergmann, als Mitglied einer militärischen Einheit arbeitet, die die Aufgabe hat, die Schächte des Feindes zu vernichten, der versucht, die Stadtmauern zu unterhöhlen. Am Beginn des Kapitels wird die Einheit von einer Explosion verschüttet, und es bleibt ihr nichts anderes übrig, als entweder zu warten oder sich ins Freie zu graben, und zwar trotz des Risikos, vom Feind gehört zu werden – sonst werden sie von Massen von Erdreich verschüttet.
Der beengte Raum und die allgegenwärtige Dunkelheit haben einen Zerfall der Zeit zur Folge und bewirken, dass sich unsere Aufmerksamkeit von dem historischen Ereignis der Belagerung Brünns abwendet und zu einer existenziellen Aussage eines vom Krieg betroffenen Individuums hin verschiebt. Es handelt sich lediglich um eine, wenngleich die stärkste Episode aus dem Buch, wo der Protagonist mit einem historischen Ereignis, wie man es aus Lehrbüchern kennt, konfrontiert ist, doch die Art, wie er sich ihm annähert, ist völlig neu und stellt dem Leser das Ereignis in seiner ganzen Unübersichtlichkeit vor – so, wie sich möglicherweise einem zufälligen Beteiligten ähnlich wie Tyll bei der letzten großen Schlacht des Dreißigjährigen Krieges bei Zusmarshausen vor den Augen ein Schlachtfeld eröffnet. Da es in dem Kapitel über Brünn nicht mittels eines Schlachtfelds und zahlreicher Opfer dargestellt wird, sondern mittels eines verschütteten Schachts und ein paar Soldaten, die mehr als unter dem Feind unter Sauerstoffmangel, Halluzinationen und gegenseitigem Misstrauen leiden, ist das Leseerlebnis intensiver und näher als über den betäubenden Verband eines konventionellen historischen Romans.
Kehlmann liebt übrigens Extremsituationen, in die er seinen Protagonisten hineinführt. Wird Tyll in der ersten Hälfte des Romans als Herr der Lüfte dargestellt, der geschickt wie ein Akrobat auf dem Seil tanzt und ebenso geschickt darin ist, dem Krieg zu entkommen, wird er in der zweiten Hälfte der Geschichte selbst von den Kriegsereignissen verschüttet, und zwar buchstäblich.
Der Fluch der Legende
Tyll ist zwar die Hauptfigur von Kehlmanns Roman, doch die treibende Kraft der Handlung ist der Krieg selbst. Er bildet den Hintergrund, vor dem Tyll seine Gaukeleien vollführt, dabei springt er manchmal unerwartet hervor und verteilt die Karten neu. Der Krieg begleitet Tylls Schicksal ständig, zwischen beiden gibt es eine besondere Verbindung. Der Roman beginnt mit dem Satz: „Der Krieg ist noch nicht bis zu uns vorgedrungen.“ Mit uns ist die Gesellschaft gemeint, die gegen Ende des Kapitels zerstört wird. Als Vorbote oder vielleicht Herold des Krieges kommt vor Krieg und Zerstörung gerade Tyll, der der Gesellschaft seine Kunststücke vorführt. Er balanciert zwischen Witz und Grausamkeit, es lässt sich nicht erkennen, wo das eine beginnt und das andere endet, hinter einem Kompliment ist stets ätzender Hohn zu spüren, die weiche Eleganz der Bewegungen wird begleitet von einer Grobheit der Sprache. Tyll ist ein Kind seiner Zeit, dabei aber nährt er stets den Wunsch in sich, der Zeit zu entkommen.
Der Ausweg für ihn ist am Ende des Romans, als sich am Horizont langsam Frieden abzeichnet, eben seine Legende, also die Erzählung, in der er ewig jung bleibt, stets den Fallen entkommt und ewig die Mächtigen und Dummen verhöhnt. Diese Legende ist jedoch zweischneidig. Die Sammlung seiner Streiche ist eine Fratze vor dem Hintergrund eines zerstörerischen Krieges, ebenso wie der Titeleinband des Romans, wo eine Karnevalsszene von Goya, einem der frühesten Chronisten der Brutalität des Krieges ohne Beschönigungen, zu sehen ist. Tyll wird auf ewig seine Streiche in dem endlosen Krieg treiben, wie der Dreißigjährige Krieg denjenigen erschienen sein mag, die nur ihn und keinen Frieden erlebt haben. Tyll bewegte sich unter ihnen, unter den Mächtigen seiner Zeit, aber auch den vergessenen Opfern, den Hunderten und Tausenden, deren Geschichte niemand aufschreiben wird.
Tylls Legende schrieben andere und schrieben sie um. Eine Legende ist jedoch Geschichte, und die Geschichte wird, wie ein Zitat besagt, von den Siegern geschrieben. Das ist ihr Fluch. Die einzige Befreiung aus diesem Fluch ist die Möglichkeit, die Hauptfigur zu den Hunderten und Tausenden durchbrennen zu lassen, deren Geschichte niemand aufschreiben wird, und nur eine leere Hülle übrig zu lassen, die das Material für die Legende bildet. Das wäre tatsächlich Tylls letzter meisterhafter Streich. Daniel Kehlmann hat dieses Paradox mit seinem Roman zum Leben erweckt.
© Richard Guniš
Der Autor ist Germanist und Bibliothekar an der Österreichischen Bibliothek.
Die Buchbesprechung ist in Zusammenhang mit dem digitalen Literaturmagazin iLiteratura entstanden.
Nach mehr als zehn Jahren, die seit der Veröffentlichung des Welterfolgs des Romans Die Vermessung der Welt (Vyměřování světa) vergangen sind, kehrt Daniel Kehlmann in seinem jüngsten Werk Tyll zu einem historischen Thema zurück. Es wäre jedoch nicht Kehlmann, um jeden Preis originell, wenn es so einfach wäre. Während Carl Gauss und Alexander von Humboldt, die Protagonisten aus der Vermessung der Welt, zweifellos historische Persönlichkeiten sind, ist die Person des Eulenspiegel, auf die sich Kehlmann bereits im Titel seines neuen Romans beruft, nicht historisch belegt und gehört eher zur Weltliteratur als zu einer konkreten geschichtlichen Epoche. Es handelt sich um die mythische Gestalt des Gauklers Till Eulenspiegel, der im 13. Jahrhundert gelebt haben soll; zumindest behauptet es so eine Sammlung seiner Streiche aus der Zeit um 1510, bei der nur der Name des Herausgebers, nicht aber der des Verfassers bekannt ist.
© Argo Ein schwarzes Seil, das den blauen Himmel durchtrennt
Die Streichesammlung vom Beginn des 16. Jahrhunderts war zu ihrer Zeit ein Bestseller, sie wurde in andere Sprachen übersetzt und verbreitete sich auch jenseits der Grenzen des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Die Gestalt des Till Eulenspiegel wurde von Literaten als Stimme eines Narren verwendet, der gegen die Macht auftritt und dem eine solche Kritik erlaubt ist, als Stimme, die stellvertretend für die Stimme des Volkes oder für die Stimme eines gewitzten Individuums, das sich durch Hohn von der dumpfen, schwerfälligen Masse abhebt, stehen konnte, aber nicht musste. Tills Streiche bewegten sich immer an der Grenze zwischen Witz und Grausamkeit. Je mehr Till zugeschriebene Streiche hinzukamen, desto mehr wurde er zu einer Gestalt, die ihren Namen wechselte, je nachdem, in welchem Land sie umging, und die sogar auch den Gesetzen der Zeit trotzte. Sie erhielt also mit der Zeit Attribute, die sie schließlich zu einer Legende werden ließen, die in der Lage war, Zeit und Ort hinter sich zu lassen.
Diese Variabilität und Vielschichtigkeit der Gestalt und auch des Spiels mit Fakten und Fiktion macht sich Kehlmann zu eigen und reichert sie mit seinem eigenen Erzählstil und Themen an, die ihn bereits seit seinem frühen Erstlingswerk in Romanform Beerholms Vorstellung (Beerholmova představa, 1997) beschäftigen, wie z. B. das Überschreiten der Grenzen zwischen Zeit und Raum, Realität und Phantasie usw. Durch den Titel Tyll verknüpft Kehlmann den standardisierten Namen des Gauklers Till mit dem niederdeutschen Dialekt, wo dieser in der Form „Tyll“ verwendet wird, und setzt die Gestalt aus dem Spätmittelalter in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hinein. Die historisch umstrittene Figur verortet er so in konkreten Ereignissen mit realen historischen Persönlichkeiten; zu den markantesten gehört beispielsweise Friedrich von der Pfalz, der als „Winterkönig“ bekannt ist, doch im Buch ist beispielsweise auch von seiner Frau Elisabeth Stuart, dem deutschen Gelehrten Athanasius Kircher oder dem Schriftsteller Adam Olearius zu lesen. Dies schlägt sich natürlich auch im Aufbau des Romans nieder.
Die historischen Ereignisse erhalten so einen Hauch von Fiktion, das Gewicht dessen, dass es sich um Fakten handelt, wird plötzlich von Zweifeln entspannt, indem die Möglichkeit eingeräumt wird, dass sich alles auch anders abgespielt haben könnte und dass alle zur Verfügung stehenden Quellen nur die Spitze eines Eisbergs sind, unter der Kräfte und Gegenkräfte wirken, von denen niemand mehr etwas erfahren wird. Auch die historischen Gestalten verändern sich in diesem Spiegel, erneut kann hier als gutes Beispiel die Figur des Friedrich von der Pfalz herangezogen werden, der im Laufe des Erzählflusses aus den historischen Chroniken verschwindet und auf die fiktive Ebene seines Beinamens „Winterkönig“ übergeht. Die Phantasieelemente gewinnen an Glaubhaftigkeit, sie sind wie verlorene Mosaiksteinchen, ohne die das Werk zwar seinen historischen Wert für künftige Generationen hat, ihm jedoch der Kontext fehlt, in dem es auf die Menschen damals wirkte.
Kehlmanns Roman wiegt somit die Spannung zwischen Fakten und Fiktion auf, genauso wie sein Protagonist bereits in der Eingangsszene im ersten Kapitel auf einem gespannten Seil balanciert. Übrigens übernimmt dieses gespannte schwarze Seil, dass den schwarzen Himmel durchteilt, Stellvertreterfunktion und taucht in veränderter Form auch in jedem Werk Kehlmanns auf. Es ist die Verbindung des Unendlichen mit einer festgelegten Raumzeit, von Ewigkeit mit Sterblichkeit, Physik und Metaphysik, Bekanntem und Unbekanntem. Derart symbolisch ist auch der gesamte Roman aufzufassen, der zwar in einer klar definierten historischen Zeit spielt, der jedoch die Grenzen des historischen Romans hin zu neuen Möglichkeiten verschiebt, wie sich über dieses Genre zur Gegenwart sprechen lässt.
Das unsichtbare Brünn
Die seltsame Zeitlosigkeit, die trotzdem in einer konkreten historischen Zeit verankert ist, geht nicht nur von der Erzählstruktur des Romans aus, der in der Zeit springt, sondern auch die Erzählperspektive, durch die wir die bekannten historischen Ereignisse betrachten. Nirgendwo wird dies so deutlich wie im vorletzten Kapitel, das sich in der Zeit der Belagerung Brünns durch die Schweden abspielt.
Statt dass der Autor – einhergehend mit der guten Tradition des konventionellen historischen Romans – die Ergebnisse seiner sorgfältigen Recherchen und Kenntnisse eröffnet und versucht, für den Leser das historische Ereignis vor dessen Augen erstehen zu lassen, statt die Dynamik von Belagerten und Belagernden zu nutzen, pendelt er zwischen den verfeindeten Lagern und der von der Welt abgeschnittenen Bevölkerung, Kehlmann hat sich für eine ungewöhnliche Erzählperspektive entschieden, die fast nichts vom laufenden Konflikt durchdringen lässt. Das ganze Kapitel spielt nämlich unter der Erde, wo Tyll zusammen mit den anderen Soldaten als Bergmann, als Mitglied einer militärischen Einheit arbeitet, die die Aufgabe hat, die Schächte des Feindes zu vernichten, der versucht, die Stadtmauern zu unterhöhlen. Am Beginn des Kapitels wird die Einheit von einer Explosion verschüttet, und es bleibt ihr nichts anderes übrig, als entweder zu warten oder sich ins Freie zu graben, und zwar trotz des Risikos, vom Feind gehört zu werden – sonst werden sie von Massen von Erdreich verschüttet.
Der beengte Raum und die allgegenwärtige Dunkelheit haben einen Zerfall der Zeit zur Folge und bewirken, dass sich unsere Aufmerksamkeit von dem historischen Ereignis der Belagerung Brünns abwendet und zu einer existenziellen Aussage eines vom Krieg betroffenen Individuums hin verschiebt. Es handelt sich lediglich um eine, wenngleich die stärkste Episode aus dem Buch, wo der Protagonist mit einem historischen Ereignis, wie man es aus Lehrbüchern kennt, konfrontiert ist, doch die Art, wie er sich ihm annähert, ist völlig neu und stellt dem Leser das Ereignis in seiner ganzen Unübersichtlichkeit vor – so, wie sich möglicherweise einem zufälligen Beteiligten ähnlich wie Tyll bei der letzten großen Schlacht des Dreißigjährigen Krieges bei Zusmarshausen vor den Augen ein Schlachtfeld eröffnet. Da es in dem Kapitel über Brünn nicht mittels eines Schlachtfelds und zahlreicher Opfer dargestellt wird, sondern mittels eines verschütteten Schachts und ein paar Soldaten, die mehr als unter dem Feind unter Sauerstoffmangel, Halluzinationen und gegenseitigem Misstrauen leiden, ist das Leseerlebnis intensiver und näher als über den betäubenden Verband eines konventionellen historischen Romans.
Kehlmann liebt übrigens Extremsituationen, in die er seinen Protagonisten hineinführt. Wird Tyll in der ersten Hälfte des Romans als Herr der Lüfte dargestellt, der geschickt wie ein Akrobat auf dem Seil tanzt und ebenso geschickt darin ist, dem Krieg zu entkommen, wird er in der zweiten Hälfte der Geschichte selbst von den Kriegsereignissen verschüttet, und zwar buchstäblich.
Der Fluch der Legende
Tyll ist zwar die Hauptfigur von Kehlmanns Roman, doch die treibende Kraft der Handlung ist der Krieg selbst. Er bildet den Hintergrund, vor dem Tyll seine Gaukeleien vollführt, dabei springt er manchmal unerwartet hervor und verteilt die Karten neu. Der Krieg begleitet Tylls Schicksal ständig, zwischen beiden gibt es eine besondere Verbindung. Der Roman beginnt mit dem Satz: „Der Krieg ist noch nicht bis zu uns vorgedrungen.“ Mit uns ist die Gesellschaft gemeint, die gegen Ende des Kapitels zerstört wird. Als Vorbote oder vielleicht Herold des Krieges kommt vor Krieg und Zerstörung gerade Tyll, der der Gesellschaft seine Kunststücke vorführt. Er balanciert zwischen Witz und Grausamkeit, es lässt sich nicht erkennen, wo das eine beginnt und das andere endet, hinter einem Kompliment ist stets ätzender Hohn zu spüren, die weiche Eleganz der Bewegungen wird begleitet von einer Grobheit der Sprache. Tyll ist ein Kind seiner Zeit, dabei aber nährt er stets den Wunsch in sich, der Zeit zu entkommen.
Der Ausweg für ihn ist am Ende des Romans, als sich am Horizont langsam Frieden abzeichnet, eben seine Legende, also die Erzählung, in der er ewig jung bleibt, stets den Fallen entkommt und ewig die Mächtigen und Dummen verhöhnt. Diese Legende ist jedoch zweischneidig. Die Sammlung seiner Streiche ist eine Fratze vor dem Hintergrund eines zerstörerischen Krieges, ebenso wie der Titeleinband des Romans, wo eine Karnevalsszene von Goya, einem der frühesten Chronisten der Brutalität des Krieges ohne Beschönigungen, zu sehen ist. Tyll wird auf ewig seine Streiche in dem endlosen Krieg treiben, wie der Dreißigjährige Krieg denjenigen erschienen sein mag, die nur ihn und keinen Frieden erlebt haben. Tyll bewegte sich unter ihnen, unter den Mächtigen seiner Zeit, aber auch den vergessenen Opfern, den Hunderten und Tausenden, deren Geschichte niemand aufschreiben wird.
Tylls Legende schrieben andere und schrieben sie um. Eine Legende ist jedoch Geschichte, und die Geschichte wird, wie ein Zitat besagt, von den Siegern geschrieben. Das ist ihr Fluch. Die einzige Befreiung aus diesem Fluch ist die Möglichkeit, die Hauptfigur zu den Hunderten und Tausenden durchbrennen zu lassen, deren Geschichte niemand aufschreiben wird, und nur eine leere Hülle übrig zu lassen, die das Material für die Legende bildet. Das wäre tatsächlich Tylls letzter meisterhafter Streich. Daniel Kehlmann hat dieses Paradox mit seinem Roman zum Leben erweckt.
© Richard Guniš
Der Autor ist Germanist und Bibliothekar an der Österreichischen Bibliothek.
Die Buchbesprechung ist in Zusammenhang mit dem digitalen Literaturmagazin iLiteratura entstanden.
– Beerholms Vorstellung. Deuticke Verlag 1997.
– Unter der Sonne. Deuticke Verlag 1998.
– Mahlers Zeit. Suhrkamp Verlag 1999. Tschechisch: Mahlerův čas. Übersetzt von Jana Zoubková. Argo 2004.
– Der fernste Ort. Suhrkamp Verlag 2001.
– Ich und Kaminski. Suhrkamp Verlag 2003. Tschechisch: Já a Kaminski. Übersetzt von Tomáš Dimter. Mladá fronta 2012.
– Die Vermessung der Welt. Rowohlt Verlag 2005. Tschechisch: Vyměřování světa. Übersetzt von Tomáš Dimter. Vakát 2007.
– Wo ist Carlos Montúfar? Rowohlt Verlag 2005.
– Diese sehr ernsten Scherze. Wallstein Verlag 2007.
– Leo Richters Porträt. Rowohlt Verlag 2009.
– Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt Verlag 2009. Tschechisch: Sláva. Übersetzt von Tomáš Dimter. Mladá fronta 2009.
– Lob: Über Literatur. Rowohlt Verlag 2010.
– F. Rowohlt Verlag 2013.
– Kommt, Geister. Rowohlt Verlag 2015.
– Du hättest gehen sollen. Rowohlt Verlag 2016.
– Tyll. Rowohlt Verlag 2017. Tschechisch: Tyll. Übersetzt von Michael Půček. Argo 2019.
– Unter der Sonne. Deuticke Verlag 1998.
– Mahlers Zeit. Suhrkamp Verlag 1999. Tschechisch: Mahlerův čas. Übersetzt von Jana Zoubková. Argo 2004.
– Der fernste Ort. Suhrkamp Verlag 2001.
– Ich und Kaminski. Suhrkamp Verlag 2003. Tschechisch: Já a Kaminski. Übersetzt von Tomáš Dimter. Mladá fronta 2012.
– Die Vermessung der Welt. Rowohlt Verlag 2005. Tschechisch: Vyměřování světa. Übersetzt von Tomáš Dimter. Vakát 2007.
– Wo ist Carlos Montúfar? Rowohlt Verlag 2005.
– Diese sehr ernsten Scherze. Wallstein Verlag 2007.
– Leo Richters Porträt. Rowohlt Verlag 2009.
– Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt Verlag 2009. Tschechisch: Sláva. Übersetzt von Tomáš Dimter. Mladá fronta 2009.
– Lob: Über Literatur. Rowohlt Verlag 2010.
– F. Rowohlt Verlag 2013.
– Kommt, Geister. Rowohlt Verlag 2015.
– Du hättest gehen sollen. Rowohlt Verlag 2016.
– Tyll. Rowohlt Verlag 2017. Tschechisch: Tyll. Übersetzt von Michael Půček. Argo 2019.
Mathias Enard, spanischer Schriftsteller und Übersetzer spricht mit Daniel Kehlmann über seinem Roman Tyll.
Deutsch mit tschechischen Untertiteln.
Deutsch mit tschechischen Untertiteln.
Der Übersetzer Michael Půček wurde für seine Übersetzung von Tyll mit einem Schöpferpreis im Rahmen der diesjährigen Verleihung vom Josef-Jungmanns-Preis ausgezeichnet und äußerte sich dazu in seinem Blogeintrag.
(geb. 1966), Übersetzer
Michael Půček studierte Germanistik und Bohemistik an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag und absolvierte ein postgraduales Studium in Computerlinguistik. Er stellte auch vergleichende Forschung zum deutschen und tschechischen Satzbau an und war als Lektor für Deutsch und Tschechisch tätig. Er ist Co-Autor des großen Deutsch-Tschechischen und Tschechisch-Deutschen Wörterbuchs. Seit einigen Jahren widmet er sich dem literarischen Übersetzen.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung
Michael Půček studierte Germanistik und Bohemistik an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag und absolvierte ein postgraduales Studium in Computerlinguistik. Er stellte auch vergleichende Forschung zum deutschen und tschechischen Satzbau an und war als Lektor für Deutsch und Tschechisch tätig. Er ist Co-Autor des großen Deutsch-Tschechischen und Tschechisch-Deutschen Wörterbuchs. Seit einigen Jahren widmet er sich dem literarischen Übersetzen.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung